Der Falschvorbereitete

Ralf Neumann


Editorial

Vergröbertes Bild des Rätsel-Protagonisten

(09.03.2023) Nicht selten hatten Forscher große Entdeckungen direkt vor ihrer Nase – und gingen an ihnen vorbei. So auch unser Gesuchter.

„Dans les champs de l‘observation le hasard ne favorise que les esprits prepares.” So lautet der wohl bekannteste Ausspruch von Louis Pasteur über das Wesen von Wissenschaft und Forschung: „Auf dem Gebiet der Beobachtung begünstigt der Zufall nur den vorbereiteten Geist.“ Und tatsächlich ist die Wissenschaftsgeschichte voll von Anekdoten, in denen dieses Muster maßgeblich zu großen Entdeckungen führte.

Ein prominentes Beispiel ereignete sich in den Jahren 1953 und 1954 an einer Universität auf einer Insel im kanadischen Sankt-Lorenz-Strom. Damals waren am dortigen Department of Psychology die Köpfe eines Postdoc-Stipendiaten und eines Neurowissenschaftlers, der ursprünglich als Elektroingenieur ausgebildet war, im richtigen Moment vorbereitet genug, um die tatsächliche Bedeutung eines nicht ganz geglückten Experiments zu erkennen. Was dazu führte, dass sie heute als Pioniere einer weitreichenden Entdeckung gefeiert werden.

Editorial

Was war damals passiert? Bereits zuvor hatte der Ex-Elektroingenieur eine Methode zur schwachen elektrischen Stimulation einzelner Gehirnregionen in frei laufenden Ratten etabliert. Ebenso hatte er zusammen mit einem anderen Mitarbeiter die Hypothese entwickelt, dass sich über die Stimulation bestimmter Hirnareale womöglich das Lernverhalten der Ratten in klassischen Labyrinth­tests verbessern ließe. Doch egal in welche Hirnregionen sie die Elektroden steckten, keine Ratte schnitt auf Stimulation hin besser ab als ihre unstimulierten Artgenossen – die meisten sogar schlechter. Also verwarfen die beiden ihre Theorie und wandten sich wieder anderen Fragen und Problemen zu.

Glücklicherweise waren diese „Fehlschläge” dem Postdoc nicht bewusst, als er im Department ankam – sonst hätte er bald darauf ganz ähnlich angelegte Versuche womöglich gar nicht erst gestartet. Und dann kam auch noch Zufall dazu: Statt wie geplant in der Formatio reticularis landete seine Elektrode bei einer Ratte versehentlich rund 4 Millimeter weiter in der sogenannten Septalregion. Und siehe da: Gerade dieses Exemplar zeigte auf Stimulation ein sehr auffälliges Verhalten.

In einem typischen Fall von Pasteurs „vorbereitetem Geist” zogen der Postodoc und der Ex-Elektroingenieur die richtigen Schlüsse – und nach einer Reihe bestätigender Experimente konnten sie folgendes Kernergebnis veröffentlichen:

Editorial

Jedes Mal, wenn die Ratten einen Hebel in einer Ecke des Käfigs drückten, schlossen die beiden den Stromkreis zur Elektrostimulation. Nachdem auf diese Weise eine gewisse „Anlernphase” abgeschlossen war, rannten vor allem diejenigen Tiere, denen die Elektroden zuvor die Septalregion stimuliert hatten, unermüdlich weiter zu dem Hebel, um ihn zu drücken. Dieses Verhalten wurde noch weiter verstärkt, wenn die beiden Kanadier dafür sorgten, dass die Ratten den stimulierenden Stromreiz durch das Hebeldrücken tatsächlich selbst auslösen konnten. Die „am besten getroffenen” Ratten rannten diesem offensichtlichen Glücksreiz gar bis zur absoluten Erschöpfung nach – und drückten lieber immer weiter den Hebel, als zu essen oder zu trinken.

Damit hatten die beiden Kanadier die Existenz eines bestimmten Hirnzentrums bewiesen, das bei all seinen Implikationen verständlicherweise schnell zu einem der absoluten Hotspots der psychiatrischen und neurowissenschaftlichen Forschung werden sollte.

2.600 Kilometer weiter südwestlich hätte indes ein etwas älterer Kollege der beiden schon zwei Jahre früher dieselbe Entdeckung machen können. An der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie der dortigen Universität interessierte er sich vor allem für die neuronalen Korrelate der Schizophrenie. Dazu hatte er eine ziemlich komplexe Theorie entwickelt, die er zwischen 1950 und 1952 mit elektrischer Tiefenhirnstimulation bei 25 Patienten überprüfen wollte. Knapp die Hälfte von ihnen bekam ausschließlich oder zumindest teilweise Elektroden in die Septalregion implantiert. Die subjektiven Antworten der Patienten auf die Stimulationen waren insgesamt divers, neben „Angst“, „Verwirrung“ und „dysphorischen Störungen“ berichteten sie vor allem über „erhöhte Wachsamkeit“.

Vier Patienten gaben indes sehr angenehme bis hin zu euphorischen Empfindungen durch die Stimulation zu Protokoll. Unser Schizophrenie-Forscher ignorierte diese Aussagen jedoch komplett in der Zusammenfassung der unmittelbaren Verhaltenseffekte seiner Hirnstimulations-Experimente. Er hatte die Bedeutung des Befundes zu diesem Zeitpunkt schlichtweg nicht erkannt. Nicht weil sein Geist gar nicht vorbereitet war – sondern wohl eher, weil er falsch vorbereitet war.

Vielleicht sind die Ursachen seines Nichterkennens allerdings auch anders gelagert. Denn auch wenn die Psychiatric Annals den Arztsohn noch zu Lebzeiten als „berühmten Psychiater“ ehrten, gelten seine Arbeiten heute als höchst umstritten – sowohl diejenigen über Homosexualität und Drogeneffekte wie auch diejenigen über Schizophrenie.

Na, wer ist‘s?



Mailen Sie den gesuchten Namen sowie Ihre Adresse an die Redaktion
Einsendeschluss ist der 31.03.2023
Wir verlosen zwei Laborjournal-T-Shirts.