Die Mehrfach-Erste

Ralf Neumann


Editorial

Vergröbertes Bild der zu erratenden Forscherin

(11.10.2023) Beharrlich ging unsere Gesuchte vor über hundert Jahren ihren Weg durch die Männerwelt der medizinischen Fakultäten. Und wurde in Europa und den USA mehrmals zur Pionierin.

Sicherlich platzte nicht vielen Forscherinnen mitten in einem Experiment ein leibhaftiger Kaiser ins Labor. Unserer Gesuchten passierte genau das. In einer berühmten Forschungsstation am Mittelmeer hatte sie gerade einen betäubten Oktopus auf dem Operationstisch fixiert, um dessen Speicheldrüsenfunktion zu untersuchen. Als sie gerade mit dem Sezieren beginnen wollte, ging plötzlich die Tür auf und der Kaiser betrat samt Gefolge das Labor. Genau in diesem Moment wirbelte der Krake in einer Reihe von Reflexbewegungen seine Arme herum und sprühte tintenfarbene Strahlen aus.

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Der Kaiser, der zugleich als Präsident des Tierschutzvereins seiner Nation fungierte, war bestürzt ob dieser vermeintlichen Quälerei einer hilflosen Kreatur. Wütend bestand er darauf, dass Experimente, die Tieren Schmerzen zufügen, in der Forschungsstation verboten werden – und drohte, der Einrichtung ansonsten die finanzielle Unterstützung zu entziehen. Glücklicherweise konnte der Direktor und Gründer der Station, ein damals weltberühmter Zoologe, dessen Namen sie bis heute trägt, den Kaiser beschwichtigen. Er erklärte ihm die Notwendigkeit und Schmerzlosigkeit des Verfahrens, sodass die perplexe Physiologin das Oktopus-Experiment schließlich ohne weitere Konsequenzen fortsetzen durfte.

Diese war damals bereits 39 Jahre alt und hatte erst seit zwei Jahren ihren Doktortitel in der Tasche. Geboren wurde sie als Kind deutscher Auswanderer aus Württemberg in einer Stadt im Mittleren Westen der USA. Der Vater verließ die Familie früh, sodass die Tochter ihre Ausbildung immer wieder unterbrechen musste, um ihre alleinerziehende Mutter bei der Versorgung der Familie zu unterstützen. Nicht zuletzt deshalb konnte sie erst im Alter von 31 Jahren ein Zoologie-Studium an einer Ivy-League-Universität rund 1.300 Kilometer weiter westlich aufnehmen.

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Nach ihrem Abschluss erhielt sie ein Stipendium für Studenten mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten an einem kurz zuvor gegründeten privaten College, das als erste Hochschule in den USA Promotionsabschlüsse auch für Frauen anbot. Dort forschte sie als biologische Assistentin unter anderem mit einem späteren Nobelpreisträger, der sie in den Sommermonaten zu einem großen meeresbiologischen Labor im Nordwesten der USA mitnahm. Unsere Tierphysiologin war die erste Frau überhaupt, die dort selbstständig forschte – und schon bald erregte sie mit ihrer Arbeit größere Aufmerksamkeit: Ihre Ergebnisse zur Embryologie von Schirmquallen beendeten endgültig eine heftige Kontroverse zweier großer deutscher Zoologen ihrer Zeit.

Lohn dieser Resultate war, dass der „Sieger“ dieser Kontroverse sie zur Fortführung der Arbeit an sein Institut einlud. Also ging sie mit einer „European Fellowship“ von der Vorgänger-Organisation der heutigen American Association of University Women an dessen linksrheinische Universität – und wurde dort wieder zur ersten Frau, der experimentelle Forschung erlaubt wurde.

Die längst verdiente Promotion wurde unserer Pionierin dort jedoch am Ende verweigert, sodass sie dazu an eine andere deutsche Universität knapp 150 Kilometer nordwestlich wechselte. Auch dort war sie mit ihrem entwicklungsphysiologischen Quallenprojekt die erste Forscherin an der medizinischen Fakultät – und ging schließlich als erste Frau, die in einer experimentellen Wissenschaft promovierte, in die Annalen dieser Universität ein. Dies allerdings nicht ohne Kampf: Der Leiter „ihres“ physiologischen Instituts lehnte sie lange mit dem Spruch „Keine Röcke in meinem Hörsaal und Labor“ ab – und machte ihr Studium und Forschung schwer. Nach ihrer Promotion wurde er dann zu ihrem größten Förderer.

Nach einer weiteren Zwischenstation in der Schweiz ging sie zurück in die USA und forschte dort zunächst als erste Frau an einer der absoluten Top-Medical-Schools der USA. Zwei Jahre später wurde sie Associated Professor an einer weiteren Universität im Mittleren Westen, wo sie nach sechs Jahren die Leitung des Department of Physiology übernahm und bis zu ihrem Ruhestand blieb. Sie war gerade ein Jahr dort, als sie als erstes weibliches Mitglied in die nationale wissenschaftliche Fachgesellschaft ihrer Disziplin aufgenommen wurde.

Ihr Forschungsinteresse war zeitlebens vielfältig. Anfangs erstreckte es sich auf den Aufbau des Herzens und die Funktionsweise des Blutkreislaufs. Danach lässt es sich allenfalls noch unter „Die Auswirkungen von Umwelt und Ernährung auf die Funktion physiologischer Systeme, insbesondere des Nervensystems“ zusammenfassen. Dazu verfolgte sie nicht nur Projekte in Quallen und Oktopus, sondern beispielsweise auch in Grashüpfern, Krebsen, Fröschen und jeder Menge Säugetiere inklusive des Menschen. Als ihre größte Leistung wird heutzutage allerdings eine eher methodische Errungenschaft erwähnt: Der erstmalige Einsatz einer Mikroelektrode zur elektrischen Stimulierung einer einzelnen Zelle. Konkret ging es in ihrer Pionierstudie damals um die Kontraktilität des Stiels von Glockentierchen.

Kurz nach dieser Episode ging die Physiologin in den Ruhestand. Sie starb direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Alter von 87 Jahren. Wie heißt sie?






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Im Rätsel ist gefragt nach Ida Henrietta Hyde, die die erste elektrische Stimulation einer einzelnen Zelle mittels einer Mikropipette vornahm und vor über hundert Jahren als Role Model für Frauen in der experimentellen Wissenschaft in die Geschichte einging.