Der Genauerschauer

Jörg Klug


Editorial

Gehirn-Zeichnung des Rätsel-Gesuchten

(10.11.2023) Ein Medizinstudent beschreibt mit einfachen Mitteln menschliche Gehirne. Und einmal mehr wird deutlich, dass man als Wissenschaftler nicht immer nur rein rational vorgehen kann. Manchmal kommt es eher auf intuitive Überzeugung an.

Von unserem Gesuchten, nennen wir ihn mal „den Italiener“, gibt es kein Bildnis. Überhaupt gibt es viele weiße Flecken und schwarze Löcher in seinem Lebenslauf. Geboren wurde er Mitte des 18. Jahrhunderts in einem Dorf in der Emilia-Romagna. Obwohl seine Eltern sehr arm waren, schaffte es der Italiener, ein Medizinstudium an einer der ältesten Universitäten der Welt ganz in seiner Nähe zu absolvieren. Wie er es finanzierte, ist unklar. Und selbst Wikipedia listet ihn nicht als bekannten Studenten dieser Alma mater auf – was wohl daran liegt, dass er seiner Universität wie auch der Stadt bis heute ein großer Unbekannter ist.

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Unser Italiener nahm sein Studium genau zur richtigen Zeit auf, denn nach dem Niedergang der Farnese-Familie nahmen die Bourbonen das Zepter an dieser altehrwürdigen Universität in die Hand. Umgehend gründeten sie unter anderem ein Physikinstitut, bauten ein Anatomisches Theater und eröffneten eine Fakultät für Veterinärmedizin. Ziemlich modern für die damalige Zeit.

Noch während seines Medizinstudiums begann der Italiener mit Untersuchungen über das menschliche Gehirn. Doch wie untersucht man einen fragilen Wackelpudding, wenn es weder Fixantien noch Mikrotome gibt? Unser Italiener schaute sich die Oberfläche sorgfältig an, fror den Wackelpudding kurzerhand ein und konnte ihn dann zumindest sauber zerschneiden. Alle auf diese Art gemachten Beobachtungen veröffentlichte der Italiener sechs Jahre nach seinem Abschluss in Medizin in einem 1782 auf Latein geschriebenen Buch mit knapp hundert Seiten. Gedruckt wurde es vom „Fürsten der Typographie“ und „Drucker der Könige“ Giambattista Bodoni, der das Druckhandwerk seiner Zeit in ganz Europa beeinflusste und zum einflussreichen Freund und Fürsprecher unseres Hirnforschers wurde.

In dem Buch selbst beschreibt unser Gesuchter unter anderem die Hirnhäute (Meningen), die Form und Inhaltsstrukturen der Hohlräume des Gehirns (Ventrikel) sowie die Gehirnveränderungen bei einigen Krankheiten. Die entscheidende Entdeckung findet sich allerdings erst in Kapitel 46 auf den Seiten 72 bis 75. Bekannt war damals schon, dass wir beim Gehirn graue Substanz außen und weiße Substanz innen unterscheiden können. Der Gesuchte entdeckte jedoch in einigen seiner Hirnschnitte eine weitere Substanz, die er schlichtweg die „dritte Substanz“ nannte – und die heute die meisten Medizinstudentinnen und -studenten unter seinem Namen kennen. Sehr präzise beschrieb er auch inklusive Abbildungen, wo diese „dritte Substanz“ am deutlichsten zu erkennen ist.

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Laut einer Fußnote in seinem Buch sah er die Substanz erstmals am 2. Februar 1776, also kurz vor seiner Laurea in Medicina gegen Ende seines Studentendaseins. Die gleiche Beobachtung publizierte vier Jahre nach Erscheinen des Buchs ein bekannter französischer Anatom. Ein österreichischer Kollege war es schließlich, der herausstellte, dass unser Gesuchter zweifelsfrei der Erstbeschreiber war – und der daher folgerichtig vorschlug, die „dritte Sub­stanz“ nach dem Italiener zu benennen.

Mit dessen klarer Beschreibung der „dritten Substanz“ begann die Charakterisierung von regionalen Unterschieden in unserer Hirnrinde – der Cytoarchitektur –, die 1909 von Korbinian Brodmann am späteren Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung sowie in der Neuzeit von Karl Zilles am Forschungszentrum Jülich maßgeblich fortgesetzt wurde.

Obwohl erst mehr als hundert Jahre nach der Entdeckung des Italieners klar wurde, dass graue und weiße Substanz zusammengehören und die Zellkörper von Neuronen (grau) und deren Fortsätze (weiß) darstellen, war er schon damals davon überzeugt, dass das Gehirn unsere Bewegungen steuert sowie unsere Wahrnehmung und das Denken ermöglicht, ohne es genauer erklären zu können. Damit erinnert er ein wenig an Friedrich Miescher, der in Tübingen die „Nucleinstoffe“ entdeckte und sicher war, dass sie eine sehr wichtige Funktion in unseren Zellen haben – ohne jedoch sagen zu können, welche das sein sollte.

Als vielversprechender Anatom brauchte unser Gesuchter damals dringend Forschungsgelder. Dazu bat er den Herzog, ihm ein Stipendium von 100 Lire pro Monat zu zahlen. Er erklärte ihm auch gleich, wie er das bewerkstelligen könne, ohne das Gesamtbudget erhöhen zu müssen. Ein älterer Professor mit einem Gehalt von 500 Lire würde bald in den Ruhestand gehen und durch einen Jüngeren ersetzt werden. Dem müsste er einfach nur 400 Lire zahlen. Bekannt ist jedenfalls, dass er das Stipendium bekam ...

Obwohl er also über Mittel verfügte und auch als Mediziner praktizierte, starb er so arm, wie es sein Vater gewesen war. Dies lag wohl primär an dessen Spielsucht, die offenbar auch für eine längere Inhaftierung des Italieners verantwortlich war und von der wir einige Details aus Briefen an seinen Freund Bodoni wissen. Den genauen Grund für die Haft erwähnten die beiden darin allerdings nicht.

Der Italiener starb schließlich im Alter von nur 45 Jahren – an einer Krankheit, deren Art ebenfalls nicht bekannt ist.

Wie heißt er?






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Im Rätsel ist gefragt nach Francesco Gennari, der einen weißen Streifen in der grauen Hirnsubstanz des Okzipitallappens entdeckte – den forthin nach ihm benannten Gennari-Streifen.