Der Vorbildwissenschaftler

Jörg Klug


Editorial

Verfremdetes Porträtfoto des im Rätsel gesuchten Wissenschaftlers

(15.02.2024) Wenige Wissenschaftler fragen nicht nur „Warum?“, sondern träumen von ganz neuen Dingen. Oftmals lernen sie das von anderen träumenden Vorbildern. So wie unser Gesuchter.

Solche träumenden Lehrer müssen zwar keine Nobelpreisträger sein, im Falle unseres Gesuchten waren es jedoch gleich zwei. Obwohl dieser gemeinsam mit einem der beiden Nobelpreisträger etwas entdeckte, das letztlich ein ganz neues Paradigma begründete, kennen ihn wohl nur wenige junge Wissenschaftler. Auch wenn er erst vor wenigen Jahren starb.

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Der Gesuchte stammt aus der Heimat des Laborjournals – und hat für dieses später auch den einen oder anderen nachdenklichen Text geschrieben. Als Pionier der Molekularbiologie konnte er dieses Fach naturgemäß noch nicht studieren. Stattdessen hatte er sich für die Chemie entschieden – sicher eine gute Wahl für die spätere Pionierarbeit.

Nach der Promotion über zwei bekannte Proteine ging er als Postdoc an den Hauptcampus eines Verbundes staatlicher Universitäten in einem US-Bundesland, das vor allem für seine Autorennstrecke bekannt ist. „Postdoc in den USA“ klingt heute völlig normal, für den damals Dreißigjährigen war es eher ein Alleinstellungsmerkmal. Konkret wollte er dort die Spezifität der Induktion eines dieser Proteine weiter untersuchen. Hierzu hatte ein französischer Nobelpreisträger bereits grundlegende Arbeiten geleistet. (Selbst sollte dieser später ein Buch über eher philosophische Fragen der modernen Biologie veröffentlichen, dessen Titel auf eine angebliche Aussage Demokrits zurückging.) Die zentrale Frage bei der Regulation des besagten Proteins war zunächst, ob sie positiv oder negativ ist. Während eines halb-privaten Seminars des französischen Nobelpreisträgers für einen ungarisch-deutsch-amerikanischen Wissenschaftler („Die Stimme der Delphine“) hatte er sie spontan so beantwortet: „Negativ natürlich! Weil es einfacher zu realisieren ist.“

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Unser Postdoc wertete die Frage nach dem molekularen Schalter der negativen Regulation als die interessanteste Frage, die es seinerzeit in der Biologie zu klären galt. Auf einem internationalen Kongress sprach er daher einfach mal „Nobelpreisträger Jim“ an. Er wolle dieses inhibierende Protein isolieren und fragte ihn, ob dieser eine Stelle für ihn hätte. Dieser hatte selbst keine – aber vielleicht „Wally“, der bei ihm arbeitete und später ebenfalls den Nobelpreis erhalten sollte. „Wally“ hatte tatsächlich eine. Und kurze Zeit später isolierten beide den allerersten Transkriptionsfaktor, obwohl von diesem nur etwa zehn Kopien in einer Bakterienzelle schwimmen.

Zurück in Deutschland blieb unser Gesuchter der Genregulation in Bakterien weiterhin treu. Die kurze Geschichte des erwähnten genetischen Paradigmas fasste er in einem wunderbaren schmalen Buch zusammen, dessen erste Auflage auf der Titelseite zeigte, wie man die Konformationsänderung eines Proteins mithilfe seiner Kristallform für das bloße Auge sichtbar machen kann.

„Wally“ und seinem Ex-Postdoc konnte man von da an regelmäßig in einer Karnevalshochburg auf dem dortigen Frühjahrs-Meeting begegnen – und sah sie oftmals diskutierend durch das Foyer des dortigen Physikalischen Instituts laufen. Dieses legendäre Meeting ging hervor aus informellen Kurzvorträgen im Anschluss an einen Kurs in Bakteriengenetik und entwickelte sich zu einer eigenständigen, hochkarätigen und international bekannten Tagung, die weder eine Anmeldung noch eine Registrierungsgebühr verlangte und entsprechende Massen anzog.

Unser Gesuchter verfolgte jedoch noch ein anderes Anliegen, womit er letztlich eine wichtige Rolle bei der Aufklärung der Verstrickungen und Verbrechen deutscher Anthropologen, Genetiker und Ärzte in der NS-Zeit spielen sollte. Er war der Meinung, dass dies nur ein Wissenschaftler mit entsprechender Sachkenntnis übernehmen könne und machte sich folglich selbst an die Arbeit – und zwar während eines Forschungsfreisemesters, in dem er eigentlich an den Labortisch zurückkehren wollte. Heraus kam eine weit über die Wissenschaft hinaus bekannt gewordene Anklageschrift im Taschenbuch-Format – seiner Meinung nach eigentlich ein „kurzer Essay“, der von anderen fortgesetzt werden sollte, da er den Umfang des Themas massiv unterschätzt hätte.

Während der Sammlung des Materials sah er es als notwendig an, mit noch lebenden Zeitzeugen persönlich in ihren Wohnungen zu sprechen – meist waren es damalige Assistenten der inzwischen verstorbenen Professoren. Wider Erwarten waren es keine Monster, vielmehr empfingen sie ihn gastfreundlich. Aber das Beharren auf Unwissenheit und die meist allzu leicht ausgesprochenen Unschuldsbehauptungen erschien vielen von ihnen in aufgeschriebener Form wohl so schrecklich, dass sie einer Veröffentlichung widersprachen. Dennoch hat ihm diese Einmischung einen Ehrendoktortitel des Technions in Haifa eingebracht.

Eingemischt hat er sich aber auch in viele andere wissenschaftspolitische Themen – weshalb nicht wenige meinten, dass man generell als Wissenschaftler „so sein sollte wie er“.

Und wer unseren „vorbildlichen Wissenschaftler“ jetzt gemeinsam mit „Jim“in einem Video sehen möchte, braucht nur ein wenig auf den Seiten des „DNA Learning Center“ am Cold Spring Harbor Laboratory zu suchen.

Wie heißt er?






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Im Rätsel ist gefragt nach Benno Müller-Hill, langjähriger Professor für Genetik in Köln. Er isolierte mit Walter Gilbert den ersten Transkriptionsfaktor, den Lac-Repressor. Im Taschenbuch „Tödliche Wissenschaft“ beschrieb er erstmals die Beteiligung deutscher Wissenschaftler an der Vernichtung Andersartiger in der NS-Zeit.