Editorial

Der vielzitierte Methodiker

Winfried Köppelle


Rätsel

(01.07.2013) Wie hat man maximalen Erfolg in der Wissenschaft, ohne ein Genie zu sein? Indem man ein Verfahren entwickelt, das möglichst viele Forscher benötigen.

Es sind nicht immer die tausendfach zitierten Fachartikel, die für Furore und Nobelpreise sorgen. Im Gegenteil: So manches im Rückblick epochale Paper wurde bei seiner Erstveröffentlichung kaum wahr- oder, schlimmer, in der Fachwelt nicht ernstgenommen – etwa als ein kraushaariger Hobbyruderer 1982 in Science verkündete, er habe winzige Proteinpartikel gefunden, die ansteckende Infektionskrankheiten verursachten. Fünfzehn Jahre später bekam Stanley Prusiner für seine Entdeckung den Nobelpreis, weitere fünfzehn Jahre danach ist seine einst verlachte Prionentheorie weitgehend akzeptiert: Jawohl, Novel Proteinaceous Infectious Particles Cause Scrapie!

Aufs Siegertreppchen der meistzitierten Paper schafften es weder Albert Einsteins Elektrodynamik bewegter Körper (1905) noch Watson und Cricks Molecular Structure of Nucleic Acids (1953). Die wahren Knüller, zumindest was die Häufigkeit ihrer Zitierung betrifft, stammen aus der Feder weithin unbekannter Wissenschaftler der zweiten Reihe. Man kennt ihre Namen aus dem Literaturverzeichnis der eigenen Diplom- oder Doktorarbeit; die Gesichter und Charaktere dahinter kennt man meistens nicht. Der hier Portraitierte steht stellvertretend für diese Spezies unbekannter Könner.

Dass er nicht gerade mit außergewöhnlicher Auffassungsgabe gesegnet war, ahnte er früh. Sein Vater hatte sich vom Dorfschullehrer zum obersten Schulaufseher hochgearbeitet; seine älteren Geschwister glänzten als Sporthelden und akademische Überflieger – doch unserem Jüngsten bescheinigte ein Intelligenztest nur geistiges Mittelmaß. „Ich erkannte, dass ein IQ von 100 nicht gerade auf besondere Brillianz hindeutet“, erinnerte er sich, doch der Vater machte ihm Mut: „Er empfahl mir, nicht ein möglichst breites Fachwissen anzustreben, sondern mich zu spezialisieren.“

Kein Superhirn und dennoch erfolgreich

Der Berufspädagoge hatte seinen Filius goldrichtig eingeschätzt. Nachdem dieser einige Freisemester als Landarbeiter auf der Ranch seines Onkels und als Matrose auf den Philippinen zugebracht und sein Studium zum Chemieingenieur beendet hatte, beherzigte er den väterlichen Rat und wechselte die Profession: „Damals, 1929, war erst so wenig über Biochemie bekannt, dass alles, was man herausfände, neu wäre.“

Gesagt, getan: Unser Student wurde also Chemiker und erlebte allerlei Skurriles. Sein späterer Examensbetreuer nämlich hatte es sich zum Ziel gesetzt, aus Urin das männliche Geschlechtshormon zu isolieren. Als Bezugsquelle benötigte der gute Mann den gelben Saft hektoliterweise, doch woher nehmen? Und so hatte jeder Besucher des Instituts erstmal sein Scherflein für die Wissenschaft beizutragen, ehe er zum Professor vorgelassen wurde.

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In genau dieser Arbeitsgruppe an einer Universität im Nordosten von Illinois, wurde Mitte der 1930er Jahre der entscheidende Grundstein gelegt für die spätere Karriere des hier Gesuchten. Unser Mann entdeckte keine neuartigen Prinzipien und entwickelte auch keine visionären Hypothesen – nein, seine Leidenschaft war es, bis an die Messgrenze und darüber hinaus zu gehen. Er erfand eine extrem genau messende Mikrowaage; er entwickelte sensible Verfahren, um Vitaminmängel bei Kindern festzustellen, und er ersann immer feinere Assays, die bis heute Verwendung finden.

Sein Meisterstück lieferte er 1951 als Erstautor im Journal of Biological Chemistry ab. Das Paper mit dem dort beschriebenen, quantitativen Bestimmungsverfahren ist das in der wissenschaftlichen Literatur meistzitierte. Viele der Laborjournal-Leser kennen das bewusste Verfahren aus ihrem Studium. Wie heisst dessen Erfinder, der „süchtig nach Mikro-Methoden“ war und den es „Zeit seines Lebens faszinierte, die analytische Sensitivität zu erhöhen“? Letztlich hatte er in der Tat Erfolg in der Wissenschaft, ohne ein Genie zu sein.




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Der gesuchte, vielzitierte Methodiker ist der amerikanische Biochemiker Oliver Lowry (1910-1996). Mit drei Kollegen veröffentlichte er 1951 im Journal of Biological Chemistry ein von ihm entwickeltes, neuartiges Verfahren zur Proteinbestimmung, beruhend auf der damals bereits bekannten Biuretreaktion zum Nachweis von Peptidbindungen. Lowrys Methode ist wegen einer zusätzlichen Farbreaktion, bei der gelbes Folin-Ciocalteu-Reagenz zu Molybdänblau reduziert wird, rund zehnfach empfindlicher. Lowry entwickelte eine Vielzahl weiterer, ausgeklügelter quantitativer Messmethoden für kleinste biologische Substanzmengen; zu Berühmtheit verhalf ihm jedoch ausschließlich seine 1951er-Arbeit. Obwohl diese die meistzitierte wissenschaftliche Studie aller Zeiten ist, bekräftigte Ihr Autor mehrfach, eigentlich sei sie ihm gar nicht so wichtig.