Editorial

Die streitbare Greisin

Winfried Köppelle


Rätsel

(02.05.2014) Hat sie wirklich als erste gesehen, was ihr damaliger Kollege als eigene Entdeckung präsentierte? Oder will sich die inzwischen 88-Jährige nur wichtig machen?

Was sich damals tatsächlich ereignet hat, werden wir nie erfahren. Es gibt zwei mündlich überlieferte Versionen der Geschichte, und diese unterscheiden sich im entscheidenen Detail grundlegend. Es geht um die Frage, wer als erster bemerkte, dass bei einem bestimmten Krankheitsbild zwei Prozent mehr von etwas vorhanden ist als gemeinhin üblich.

Das bewusste Syndrom gibt es, seitdem es Menschen gibt; in letzter Zeit jedoch seltener als früher, obwohl die Mütter älter werden. Doch trotz ausgeklügelter Vorhersage-Techniken und den oft harten Konsequenzen der Schwangeren hat noch immer eines von 650 Neugeborenen die typisch mandelförmigen Augen, die meist einhergehen mit Herzfehlern, Darmverengungen und einer stark verlangsamten geistigen Entwicklung. Warum dies so ist, lag bis in die 1950er Jahre hinein im Dunkeln.

Ein holländischer Chinese legte in Schweden die Grundlagen dafür, dies zu ändern: Joe Hin Tjio. Der polyglotte Zytogenetiker, dessen überaus bewegte Lebensgeschichte mühelos ein Buch füllen würde, fand 1955 heraus, dass diploide menschliche Zellen jeweils 46 Chromosomen enthalten (und nicht 48, wie man bis dahin gedacht hatte). Die damals aufkommenden Fixierungs- und Färbemethoden ermöglichten es zudem, die eingeschnürten DNA-Komplexe geordnet darzustellen und abzulichten. Beim Betrachten eines solchen Karyogramms entdeckte ein Pariser Kinderarzt im Juli 1958 gar Seltsames. Oder war es doch seine Kollegin, bereits einen Monat früher? Das ist die entscheidende Frage.

Lügen die Geschichtsbücher?

Bis 2009 lautete die offizielle Version in den medizinischen Geschichtsschreibung wie folgt: Am oben beschriebenen Genomdefekt forschend, habe der clevere Pädiater bemerkt, dass die Zellen betroffener Patienten ein zusätzliches Chromosom aufwiesen. Er zählte somit 47 statt 46, ermittelte ferner die Identität des zusätzlichen Elements und stellte einen Zusammenhang zum Syndrom her. Damit nicht genug, setzte er sich als Erst- und seinen Chef als Seniorautor auf einen Fachartikel, der am 26. Januar 1959 erschien. Die Gesuchte hingegen taucht auf der Autorenliste in der Mitte auf, hatte also nur einen vergleichsweise kleinen Beitrag geliefert.

Als unfreiwilliger Wegbereiter der Pränataldiagnostik kassierte der Mediziner die wissenschaftlichen Lorbeeren, engagierte sich gegen Abtreibungen und wurde ein enger Freund des Papstes. Dieser setzte sich nach dem Tod des Franzosen gar für dessen Heiligsprechung ein.

Vor fünf Jahren allerdings trat eine streitbare Dame ins mediale Rampenlicht und reklamierte die angebliche Entdeckung für sich: Nicht ihr damaliger Kollege, sondern sie selbst habe am bewussten Pariser Kinderkrankenhaus das überzählige Chromosom entdeckt und auch die zugrunde liegende Laborarbeit geleistet. Sie habe zu der Zeit jedoch nur ein minderwertiges Mikroskop besessen und daher ihrem Kollegen die Proben übergeben. Er sollte diese für sie fotografieren. Dieser habe daraufhin sechs Monate lang nichts von sich hören lassen. Von der bevorstehenden Publikation habe die Gesuchte erst sehr spät – zu spät? – erfahren. Dass die nach ihrem inzwischen verstorbenen Kontrahenten benannte Gesellschaft seitdem die komplette Entdeckung für ihn beansprucht, ihre Person hingegen ausklammere, sei unlauter.

Zuletzt wurde der Disput intensiver. 2014 etwa wollte die französische Gesellschaft für Humangenetik die inzwischen 88-Jährige öffentlich für ihre Entdeckung ehren. Die erwähnte Konkurrenzgesellschaft drohte mit Anwälten und Anzeige. Letztlich musste die Ehrung der Gesuchten unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Wie heißt die Dame?




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Die streitbare Greisin ist die französische Kinderkardiologin Marthe Gautier (*1925). Während eines US-Aufenthalts hatte sie sich neue Färbetechniken angeeignet; danach baute sie 1956 unter primitiven Bedingungen und mit teils privatem Geld das erste in vitro-Zellkulturlabor in Frankreich auf. Nachdem sie schwedische Erkenntnisse über die korrekte Chromosomenzahl beim Menschen verifiziert hatte, entdeckte sie 1958, dass Kinder, die an einer Erscheinung namens „Mongolismus“ litten, ein zusätzliches Chromosom besitzen. Da Gautier keine geeigneten Gerätschaften besaß, um die von ihr gemachten Chromosomen-Darstellungen abzufotografieren, bat sie ihren Kollegen Jérôme Lejeune um Hilfe – und dieser veröffentlichte Gautiers Entdeckung als Eigenleistung. Erst im hohen Alter ging die Geprellte mit der Geschichte an die Öffentlichkeit.