Editorial

Der übergangene Code-Knacker

Winfried Köppelle


Rätsel

(26.04.2017) Gemeinsam mit seinem amerikanischen Kollegen gelang dem Deutschen mit dem „wichtigsten Experiment des 20. Jahrhunderts“ der erste Schritt zur Enträtselung der Sprache des Lebens.

Mal ehrlich: Würden Sie eine Million Euro in den Wind schlagen? Dazu weltweite Prominenz und einen Eintrag in die Geschichtsbücher, verbunden mit attraktiven Jobangeboten, wie sie normale Forscher ihr Leben lang nicht erhalten? Würden Sie all das sausen lassen, nur um Ihre Freundschaft zu einem Kollegen nicht zu gefährden?

In das geschilderte Dilemma schlittert Anfang der 1960er Jahre ein 34-jähriger, „spekulativ begabter Denker“ aus New York City. An den National Institutes of Health (NIH), zwischen der Old Georgetown Road und dem Rockville Pike nördlich der Bundeshauptstadt Washington, müht er sich zu dieser Zeit, die Genetik von Gregor Mendel und Oswald Avery in eine moderne, molekulare Wissenschaft zu überführen. Zwei wissenschaftliche Clowns hatten acht Jahre zuvor an der britischen Cambridge-Universität den strukturellen Aufbau der DNA geknackt, mehr aber auch nicht. Wie nun aber vier verschiedene Basen zu fast unendlich vielen, total unterschiedlichen Proteinen führen sollen – viele Ideen, aber null Plan.

Der erwähnte Amerikaner am NIH hat einen Plan, und er hat einen deutschen Kollegen, der mithilft, ihn zu verwirklichen. Schon drei Monate später lässt er sich bei einem Biochemie-Kongress in Moskau von den Kollegen feiern, in Anwesenheit des berühmten DNA-Aufklärers James Watson; die Euphorie, endlich ein Zipfelchen erhascht zu haben vom diskreten Schleier, der die molekularen Vorgänge in der Zelle verhüllt, ist grenzenlos. Sie gipfelt darin, dass ihm der schwedische König sieben Jahre später eine 23-karätige Goldmedaille aushändigt.

Der falsche Preisträger?

Immerhin hat er ja das „wichtigste Experiment des 20. Jahrhunderts“ durchgeführt – einen legendären Coup, dessen Resultat dem rasanten Aufstieg der Biowissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Weg ebnet. Klonierungen und Gentransfers, Humangenomprojekt und Molekulardiagnostik – nichts davon wäre möglich gewesen ohne dieses raffinierte Experiment, das am 27. Mai 1961 auf dem Campus nahe Washington seinen Weg nahm.

Die Geschichte hat nur einen kleinen Haken: Es war nicht der portraitierte Amerikaner, der dieses Experiment durchführte. Es war sein deutscher Kollege. Und nach dem wird hier gesucht.

Geboren in Bonn, aufgewachsen im Dritten Reich und bei Kriegsende 16 Jahre jung, studierte er an seiner Heimatuniversität Biologie und ging als Postdok für die Dauer eines Zwei-Jahres-Stipendiums nach Amerika. Dort hockten die beiden Grünschnäbel dann beisammen und dachten sich alle möglichen verrückten Experimente aus, um das damals wichtigste wissenschaftliche Rätsel zu lösen: die Sprache des Lebens. Wie wird die in der Erbsubstanz gespeicherte Information in Funktion übersetzt? Watson und Crick verfolgten dasselbe Ziel – und besaßen unendlich mehr Ressourcen und Manpower.

Erfolgreich jedoch waren unsere beiden Amateure – dank konsequenter Vereinfachung. Nicht die ganze unbekannte Sprache, sondern nur ein einziges Wort wollten sie fürs Erste verstehen. Und dafür benutzten sie radioaktiv markierte Aminosäuren, einen zellfreien Cytoplasma-Extrakt aus E. coli und synthetische, homogene RNA. In der kritischen Phase werkelte unser Mann wochenlang allein; sein Kompagnon war derweil 3.000 Meilen entfernt als Gastforscher tätig. Vielleicht war es besser so; der Amerikaner sei als Experimentator recht tollpatschig gewesen, heißt es. Den Nobelpreis bekam er dennoch, und die Freundschaft zerbrach. Der hier Gesuchte wurde immerhin noch Max-Planck-Direktor, doch weggesteckt hat der inzwischen 88-jährige die damalige Zurücksetzung keineswegs. Wie heißt er?




Zur Auflösung klicken

Der gesuchte, übergangene Code-Knacker ist der deutsche Biochemiker und emeritierte Max-Planck-Direktor Heinrich Matthaei (*1929). Als Postdoc an den National Institutes of Health (NIH) in Bethesda (Maryland) konzipierte und führte er Ende Mai 1961 das berühmte Poly-U-Experiment durch, mit dem erstmals ein Wort des genetischen Codes entschlüsselt wurde (UUU codiert für die Aminosäure Phenylalanin). Einige Autoren haben dies als das bedeutendste Experiment des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Zusammen mit seinem amerikanischen Laborkollegen Marshall Nirenberg identifizierte Matthaei anschließend auch eine Reihe weiterer der insgesamt 64 relevanten Tripletts; 1966 war der Code komplett aufgeklärt. Doch während Nirenberg 1968 für die gemeinsamen Arbeiten und daraus gewonnenen Erkenntnisse den Nobelpreis erhielt, ging Matthaei leer aus.