Editorial

Mehr Schnupfen als Heiserkeit

Publikationsanalyse 2010-2014: Hals-Nasen-Ohren-Forschung
von Mario Rembold, Laborjournal 12/2016


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Illustr.: outstormcrowd.com

Die meistzitierten HNO-Forscher im deutschsprachigen Raum forschen an Tumoren und Hörimplantaten, aber auch an Ionenkanälen und dem Geruchssinn von Fliegen.

Otorhinolaryngologie – einmal muss diese zungenbrecherische Vokabel in diesem Artikel fallen, also bringen wir es gleich zu Beginn hinter uns. Wortwörtlich ist damit die Lehre von Ohren, Nase und der Kehle gemeint. In dieser Publikationsanalyse geht es also um die Hals-Nasen-Ohrenforschung, für die wir im Folgenden einfach deren gängige Initialen „HNO“ verwenden wollen.

Der Autor blickt an dieser Stelle zurück in seine Kindheit und die Besuche in der HNO-Praxis: Dort nahm der Arzt die Größe der Rachenpolypen unter die Lupe, ein andermal diagnostizierte er eine Mittel­ohr- oder Nasennebenhöhlenentzündung, führte einen Hörtest durch oder verordnete Inhalationen, auf dass die Nase wieder frei werde. Die HNO-Kunde ist also ein übersichtliches Feld, sollte man meinen: Vom äußeren Gehörgang bis zum Innenohr, vom Mittelohr über die Eustachi-Röhre in den Nasen-Rachenraum ist der Zuständigkeitsbereich der HNO-Forscher auf den ersten Blick klar abgesteckt.

Nicht nur Mediziner gefragt

Tatsächlich finden wir in unserem Ranking etwa dreißig Forscher, die in der HNO-Abteilung einer Klinik tätig sind, viele von ihnen ausgebildete Fachärzte dieses Gebiets. Andere Arbeitsgruppen beschränken sich auf Teilaspekte des HNO-Spek­trums, wie etwa das InnerEarLab in Göttingen unter Leitung von Tobias Moser (5.). Dort trifft man auch auf Nicola Strenzke (19.), Martin Canis (30.) oder Thomas Frank (50.) aus unterschiedlichen Instituten und Kliniken der Uni Göttingen. Ebenfalls um das Innenohr dreht es sich bei Michael Strupp (7.), und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. In München hat er sich nämlich auf das Gleichgewichtssystem spezialisiert und diagnostiziert, therapiert und forscht im Schwindel- und Gleichgewichtszentrum des Uniklinikums Großhadern.

Jedoch ist nicht nur ärztliches Wissen gefragt: Birger Kollmeier (26.) hat zwar Medizin studiert, ist aber auch Physiker. Am Institut für Physik und Akustik der Universität Oldenburg geht er der Verarbeitung von gehörter Sprache auf den Grund. Und Ingenieur Michael Döllinger (43.) beschäftigt sich in der HNO-Abteilung der Uniklinik Erlangen mit Spracherzeugung und den physikalischen Eigenschaften von Stimmfrequenzen.

Hör-Physiologen

HNO-Forschung läuft also durchaus auch „interdisziplinär“ – und mitunter kommt sie dabei anderen Forschungsfeldern ins Gehege. Selbst im Göttinger InnerEarLab würde man nicht jede Publikation gleich dem Genre „HNO“ zuordnen, obwohl das Innenohr doch klar in die Zuständigkeit dieser Disziplin fällt! Nun liegt der Schlüssel zum Hörgenuss aber in den Haarsinneszellen der Cochlea. Diese sind letztlich Mechanorezeptoren, deren Stereovilli ausgelenkt werden, wenn die Cochlea aufgrund von Schallereignissen vibriert. Membrankanäle öffnen sich, Signale laufen durch Synapsen – und schon sind wir mitten in der Physiologie und Neurobiologie. So kommt es, dass ein Tobias Moser sich auch mal einem Protein widmet, das Kal­ziumkanäle blockiert; oder dass die Mutation eines Connexin-Gens im Mittelpunkt einer Publikation steht.

Gerade mit den Neurowissenschaften hat die auf den ersten Blick so klar umrissene HNO-Forschung große Schnittmengen. Dort haben wir uns auf die Wissenschaftler beschränkt, die am Sinnesorgan arbeiten. Wer hingegen „weiter drinnen“ an der Verrechnung von Höreindrücken forscht, gehört dann eher in eines unserer Neuro-Rankings. Gleiches gilt für die Physiologen: Liegt der Fokus einer Arbeitsgruppe wirklich darauf, die Funktion eines HNO-relevanten Sinnessystems zu verstehen? Oder gilt das zentrale Interesse der Funktion von Ionenkanälen, während das Organ sekundär ist?

Diese Grenze zu ziehen, ist nicht immer leicht. Nehmen wir zum Beispiel Thomas Jentsch vom Berliner Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie: 2012 hatten wir ihn wegen seiner Beiträge zu Riechrezeptoren im HNO-Ranking. Im jetzt relevanten Zeitraum aber erschienen uns seine Arbeiten zum Ionentransport insgesamt zu wenig spezifisch im Hinblick auf HNO, so dass wir seine 34 Artikel mit 922 Zitaten für diese Disziplin unberücksichtigt lassen. Die Schublade „Physiologie“ charakterisiert seine Leistungen sehr viel besser, und bereits 2013 war er deshalb auch dort gelistet.

Insekten-Spezialisten

Wo wir gerade beim Riechen und dem olfaktorischen System sind: Hier verwischen die Grenzen zu anderen Disziplinen wie nirgends sonst in diesem Ranking. Wer nichts mehr riecht, wird den HNO-Arzt aufsuchen. Also ist es zweifellos Aufgabe der HNO-Forscher, die Funktionsweise des Geruchssinns zu entschlüsseln. Und was dem Menschen seine Nase, ist der Fliege ihre Antenne. So erklärt sich, warum kein HNO-Arzt sondern ein Insektenexperte die Forscherköpfe dieses Monats anführt: Bill Hansson vom MPI in Jena. Seine Arbeitsgruppe im Department für Evolutionäre Neuroethologie ist durch drei weitere Forscher in diesem Ranking repräsentiert: Markus Knaden (21.), Silke Sachse (24.) und Markus Stensmyr (34.). Die Gruppe arbeitet vor allem an Drosophila und widmet sich dem gesamten Spektrum des Geruchs: Von der olfaktorischen Orientierung von Insekten bis hin zur Funktion der Riechrezeptoren samt der neuronalen Weiterleitung olfaktorischer Information. Schnittmengen zur Verhaltensforschung sind hier gegeben – Hansson taucht auch dort im Ranking auf. Doch weil der Schwerpunkt der Arbeitsgruppe auf dem Geruchssinn liegt und damit ein wesentlicher Aspekt der HNO-Forschung abgedeckt ist, gehören diese Autoren unserer Meinung nach in die aktuelle Liste.

Ein Blick auf die meistzitierten Reviews fördert einen weiteren Experten zutage, der sich mit dem Geruchssinn auskennt: Ulrich Benjamin Kaupp aus Bonn. Sein Paper über die olfaktorische Signalverarbeitung in Vertebraten und Insekten hat klaren HNO-Bezug und ist hier gelistet, der Löwenanteil seiner Forschung aber dreht sich um Chemotaxis und vor allem um die Orientierung von Spermien, weshalb er bei Laborjournal als Reproduktionsforscher geführt ist und hier nicht bei den „Köpfen“ auftaucht.

Leichter fiel uns die Einteilung bei Autoren, die an den HNO-Kliniken und Instituten forschen. Überlappungen gibt es hier vor allem mit Allergologen und Onkologen. Head and Neck Cancer ist ein Stichwort, das in den Papern vieler onkologisch interessierter HNO-Forscher auftaucht. Gemeint sind bösartige Tumore im Mund-Rachenraum, beispielsweise der Speicheldrüsen. Rund ein Dutzend Köpfe der Top-50 gehen diesen Kopf-Hals-Karzinomen nach. Der Meistzitierte ist Stefan Lang (3.) aus Essen. Um die Grenze zu Krebsforschern und Immunologen zu ziehen (man denke an allergischen Schnupfen), haben wir darauf geachtet, dass die entsprechenden Forscher einen Großteil ihrer Publikationen in HNO-spezifischen Journals platziert haben.

Klassisches Metier der „HNO-ler“ sind auch Hörimplantate, zum Beispiel um eine geschädigte Cochlea zu ersetzen. Auch hierzu finden sich immer wieder Publikationen, auf denen Namen der Top-50-Liste stehen. Zu Schnupfen, Heiserkeit und den sonst so typischen Infekten, die einem normalerweise beim Stichwort „HNO“ in den Sinn kommen, gibt es natürlich auch Paper, aber kaum ein Forscher wird hierauf seinen Schwerpunkt legen. Nichtsdestotrotz: Der meistzitierte Artikel, den wir in Sachen HNO ausfindig gemacht haben, beleuchtet den Zusammenhang zwischen Nasenpolypen und Rhinosinusitis. Es handelt sich um ein „Positionspapier“, und man mag fragen, ob solch eine Arbeit nicht eher als Review zu werten ist. In der Web of Science-Datenbank aber ist die Veröffentlichung als „Article“ gekennzeichnet – und das ist für uns maßgeblich. Daran mitgeschrieben hat unter anderem auch Herbert Riechelmann (6.) – wodurch er fast zwei Drittel seiner Zitierungen dieser einen Veröffentlichung verdankt.

Ein Paper, viele Zitate

Daher auch hier wieder die immer gleiche Mahnung, Zitierzahlen nicht als das Maß aller Dinge zu nehmen, um den wissenschaftlichen Wert eines Forschers zu beurteilen. Ein Wissenschaftler, der maßgeblich zu solch einem Thema aus dem ärztlichen HNO-Alltag beiträgt, liefert selbstverständlich wichtige Orientierungspunkte für seine Fachkollegen. Nur kann man die Zitierzahlen eines Positions- oder Leitlinienpapers nicht sinnvoll vergleichen mit denen eines sinnesphysiologischen Artikels oder einer Studie über ein neuartiges Cochlea-Implantat.

Weitere Paper in den Top-Ten der Artikel behandeln ebenfalls Klassiker aus dem Wartezimmer der HNO-Praxen, teils unter Beteiligung dutzender Autoren: Chronische Nasennebenhöhlenentzündung (2), allergischer Schnupfen mit Asthma (3. und 5.) oder Mittelohrentzündung (9.). Nicht alle zugehörigen Autoren aus dem deutschsprachigen Raum finden wir auch unter den meistzitierten Köpfen – viele von ihnen sind Allergologen oder Kinderärzte und publizieren den Großteil ihrer Artikel nicht in HNO-Journals.

Kaum Hotspots

Gerne arbeiten wir aus unseren Publikationsanalysen auch regionale Hotspots heraus. Bei den meistzitierten HNO-Köpfen aber sieht es ziemlich bunt aus: Neun verschiedene Städtenamen auf den ersten zehn Plätzen. Fünfmal jedoch taucht Jena in der gesamten Liste auf – viermal mit Namen aus dem Team der Drosophila-Riechforscher. Göttingen ist vor allem wegen des InnerEarLabs fünfmal gelistet, und auf vier Plätzen findet man Erlangen – mit drei Forschern, die einen Schwerpunkt auf Head and Neck Cancer legen.

Frauen scheinen es in der HNO-Community schwer zu haben: Auf den ersten 17 Plätzen liest man ausschließlich männliche Vornamen. Immerhin gibt es trotzdem insgesamt sechs Forscherinnen unter den fünfzig meistzitierten Köpfen.

Zusammenfassend gibt das HNO-Ranking einen Überblick über Wissenschaftler, die sich neben den klassischen HNO-medizinischen Themen mit Sinnesphysiologie und Tumorforschung befassen. Das scheinbar so klar umgrenzte Gebiet zeigt sich also doch vielfältiger, als man auf den ersten Blick denken mag.


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Letzte Änderungen: 09.12.2016