Von Methylierungen bis Super Mario

Publikationsanalyse 2012-2016: Neurowissenschaften, nicht-klinischer Teil
von Mario Rembold, Laborjournal 06/2018


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Illustr. : Fotolia / Sergey Nivens
Editorial

Auch die nicht-klinischen Neurowissenschaftler interessieren sich mitunter für krankhafte Prozesse im Gehirn. Die bunte Community besteht unter anderem aus Bildgebungsexperten, Neuropathologen und Molekularbiologen.

Selbst der biologische Laie erkennt sofort, wenn in einem Lehrbuch eine Nervenzelle skizziert ist. Ein Neurowissenschaftler kann diese morphologisch und funktionell so charakteristischen Zellen aber auf ganz verschiedenen Ebenen erforschen: Wie entstehen Aktionspotentiale? Was passiert an den Synapsen? Spielwiese eher biochemisch und zellbiologisch orientierter Forscher. Schon mit der Frage „Wie vernetzen sich Neurone?“ sind wir allerdings bei der Art Hirnforschung, die kaum mehr auf die einzelne Zelle schaut, sondern eher aufdas „große Ganze“ zielt. Hier kommen zu den Neurowissenschaften unter anderem Vertreter der Phy­siologie und Anatomie dazu. Und die Genetik mischt irgendwie bei allem mit.

Editorial
Vieles ist irgendwie Neuro

Dazu gibt es natürlich alle möglichen neuronalen, neurodegenerativen und psychiatrischen Erkrankungen, die man vom Molekül bis zum Gehirn unter die Lupe nehmen kann. Weshalb man hier etwa auch auf Proteinforscher trifft, die falsch gefalteten Molekülen auf die Schliche kommen, oder auf Immunologen, die wissen wollen, warum der menschliche Organismus in einigen Fällen das Myelin der eigenen Axone angreift. Und Neuroendokrinologen oder Verhaltensforscher betrachten das Zusammenspiel der Nervenzellen mit dem restlichen Organismus wieder aus einem anderen Blickwinkel.

Kurz gesagt: Es gibt unzählige Forscher, die irgendwie an Nervenzellen oder Gehirn arbeiten – und die doch in ganz anderen Welten zuhause sind und sich daher nur selten auf Tagungen über den Weg laufen. Deshalb haben wir Ihnen die klinischen Neuroforscher vergangenen Monat in einem separaten Ranking vorgestellt. In der aktuellen Publikationsanalyse schauen wir nun auf den Rest dieser vielseitigen Community, die wir hier im „nicht-klinischen Teil“ versammelt haben.

Wegen der vielen Schnittmengen galt als Hauptkriterium für den Ein- oder Ausschluss eines Wissenschaftlers, dass er einen Großteil seiner Artikel in Zeitschriften der Kategorie „Neurosciences & Neurology“ (laut Web Of Science) veröffentlicht haben sollte. Dadurch mag manch ein Physiologe, Zellbiologe, Verhaltensforscher, Entwicklungsbiologe oder Immunologe hier nicht auftauchen, obwohl er oder sie auch gelegentlich zu Neurothemen publiziert. Hier verweisen wir auf die entsprechenden Rankings dieser Kategorien.

Wiederhohlungstäter

Zwei Namen tauchen dennoch im aktuellen nicht-klinischen Teil unter den meistzitierten Köpfen auf, obwohl sie bereits bei den klinischen Neuroforschern zu finden waren: Florian Holsboer (2.) und Klaus-Peter Lesch (3.). Beide haben etwa die Hälfte ihrer Artikel in Fachblättern publiziert, die auf klinische Aspekte der Neuroforschung spezialisiert sind.

Holsboer war im Analysezeitraum vor allem an Ursachen der Depression und an entsprechenden Risikoprofilen von Patienten interessiert. In seiner Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut (MPI) für Psychiatrie in München, die er bis 2014 geleitet hat, entstanden aber auch Arbeiten am Mausmodell, zum Beispiel um ängstliches Verhalten und Stress zu untersuchen. Zudem taucht Holsboer auch als Ko-Autor auf dem am zweithäufigsten zitierten Artikel unserer aktuellen Analyse auf. Darin gehen die Autoren Zusammenhängen zwischen epigenetischen Mechanismen, Stress und seelischen Traumata auf den Grund und schauen sich die Methylierung des FKBP5-Gens an. Klar, auch dieses Paper überlappt mit dem klinischen Zweig der Neuroforschung. Doch die Autoren fokussieren sich auf molekularbiologische Zusammenhänge und die Auswirkungen auf die Transkription Stress-relevanter Gene – Abläufe, die auch im gesunden Gehirn stattfinden und nicht allein für das Verständnis einer Erkrankung interessant sind.

Bei Klaus-Peter Lesch legt der Blick auf die Publikationshistorie ebenfalls nahe, dass sein Interesse über rein klinische Aspekte hinausgeht. Dazu passt, dass Lesch an der Uniklinik Würzburg den Lehrstuhl für „Molekulare Psychiatrie“ innehat und neurobiologische Signalwege und Vorgänge an der Synapse aufschlüsselt, die zum Beispiel mit Depression oder Ängstlichkeit zu tun haben.

„Hirngucker“

Überdies haben wir einige Forscher aus Neuropathologischen Instituten für die aktuelle „Köpfe“-Liste ermittelt. Zum Beispiel von der Uni Freiburg Marco Prinz (4.) und Katrin Kierdorf (33.). Beide arbeiten zellbiologisch und publizieren vor allem zur Neuroimmunologie. Zum Beispiel interessieren sie sich für die Herkunft von Mikroglia-Zellen (siehe auch „Frisch gepreist“, S. 12).

Natürlich gibt es in der Riege der nicht-klinischen Neuroforscher auch solche, die einen Blick ins lebende Gehirn werfen und dabei auf diverse Neuroimaging-Verfahren setzen. Einer dieser „Hirngucker“ ist Simon Eickhoff vom Forschungszentrum Jülich, der die Liste der meistzitierten Köpfe mit großem Abstand anführt. Rund 5.800-mal haben Fachkollegen auf seine Artikel verwiesen; damit wurde Eickhoff um fast fünfzig Prozent häufiger zitiert als Florian Holsboer auf Platz zwei. Eickhoffs Gruppe erforscht unter anderem die Konnektivität des Gehirns und nutzt neuroinformatische Kniffe zur Auswertung von Imaging-Daten. Auch hier gibt es Schnittmengen zur Klinik und zu translationalen Projekten – zum Beispiel wenn das Team computergestützte Machine-Learning-Methoden entwickelt, um Hirnscans von Patienten auszuwerten und Vorhersagen zu treffen.

Für Hirnstrukturen und deren Morphologie samt Verschaltungen interessiert sich zudem eine ganze Reihe weiterer Forscher in der Liste. Walter Paulus (9.) von der Universität Göttingen möchte mehr über die Plastizität des menschlichen Gehirns erfahren und nutzt dazu Elektroenzephalographie (EEG) ebenso wie Funktionelle Bildgebung. Außerdem erforscht sein Team, wie sich neuronale Plastizität modulieren lässt. Zum Beispiel will Paulus Patienten helfen, die wegen Parkinson oder nach einem Schlaganfall motorisch beeinträchtigt sind – und experimentiert hierzu mit transkranieller Magnetstimulation.

Gene und Gehirn

Funktionelle Magnetresonanz-Aufnahmen entstehen auch bei Christian Büchel (19.) am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg. Dort nehmen die Forscher neuronale Mechanismen unter die Lupe, die an der Entscheidungsfindung mitwirken oder mit Schmerz oder Angstgefühl in Zusammenhang stehen. Über individuelle Unterschiede subkortikaler Hirnstrukturen hat hingegen Herta Flor (10.) vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim mehrere Veröffentlichungen mitverfasst. Hier standen meist Gene und Genvarianten im Vordergrund, die für diese Unterschiede verantwortlich sind und zum Beispiel mit dem Hippocampus-Volumen korrelieren (Nat. Genet. 44(5): 552-61).

Überhaupt sammeln einige der nicht-klinischen Neuroforscher einen Großteil ihrer Zitierungen durch Mitwirkung an humangenetischen Arbeiten, die nach Assoziationen zwischen einzelnen Genloci und neurobiologischen Phänotypen suchen – auch wenn die Sequenzjagd in dieser Disziplin nicht so im Vordergrund steht wie bei den klinischen Neurowissenschaftlern. Allerdings haben wir solche Studien bei der Analyse der meistzitierten Artikel generell eher aus der Liste rausgelassen. Lediglich dann haben wir sie berücksichtigt, wenn die Autoren tiefer ins Detail gehen und ausgehend von einer Genvariante den Weg bis zum Protein verfolgen oder sich die entsprechenden Vorgänge in den Neuronen anschauen.

Ein Beispiel dafür ist der am dritthäufigsten zitierte Artikel. Darin geht es um den Einfluss des Inflammosoms NLRP3 auf neuroinflammatorische Prozesse, Gedächtnisleistung und Beta-Amyloide. Die Autoren haben mit Knockout-Mäusen gearbeitet, um Alzheimer-ähnliche Symptome bei den Tieren zu untersuchen. Erstautor der Arbeit ist Michael Heneka (27.) von der Uniklinik Bonn.

Daddeln für die Neuroforschung

Bei der Recherche zu Publikationen aus der Neuroforschung stößt man bisweilen auch auf Themen, die zunächst kurios anmuten: Zum Beispiel Probanden, die zwei Monate lang täglich mindestens eine halbe Stunde lang Super Mario am Computer spielen sollten (Mol. Psychiatry 19(2): 265-71). Das Zocken des Jump ’n’ Run-Spiels wirkt sich auf das Gehirn aus – allerdings im positiven Sinne. So zumindest interpretieren die Autoren ihre Ergebnisse, wonach die Graue Substanz zunimmt und damit verbunden womöglich sogar das Risiko für Posttraumatische Belastungsstörungen oder Schizophrenie gesenkt werden könnte. (Ob das auch für tägliches stundenlanges Daddeln gilt, ist dann wohl eine andere Frage.) Mit nur rund neunzig Zitierungen hat es dieser Artikel zwar nicht in die aktuellen Top 10 geschafft, wohl aber tauchen gleich drei der Autoren unter den meistzitierten Köpfen auf – nämlich Jürgen Gallinat (16.), Ulman Lindenberger (22.) und Simone Kühn (41.).

Abschließend noch ein kurzer Blick auf die Landkarte: Die Hauptstadt Bayerns steht bei der regionalen Verteilung ganz oben – acht unserer „Köpfe“ waren irgendwann im Analysezeitraum an einem Institut in oder um München tätig. Gleich mehrere Forschungseinrichtungen sind da zu nennen: Das MPI für Psychiatrie, das Helmholtz-Zentrum München, die Technische und die Ludwig-Maximilians-Universität wie auch die HMNC GmbH, zu deren Geschäftsführern Florian Holsboer gehört. Entsprechend bunt auch die Forschungsthemen in München; dort finden wir etwa den Prionenforscher Thomas Arzberger (30.), die Stammzell-Expertin Magdalena Götz (20.) oder den Entwicklungsgenetiker Wolfgang Wurst (14.).

Die Silbermedaille geht an Göttingen, wo zwischen 2012 und 2016 sieben der meistzitierten Köpfe geforscht haben – und zwar entweder an einem MPI oder an der Uni. Danach fallen keine echten Hotspots mehr auf, auch wenn Berlin immerhin noch vier Forschern eine Heimat geboten hat. Die Nachbarn in Österreich und der Schweiz müssen dagegen auch diesen Monat wieder ganz stark sein: Nur drei unserer „Köpfe“ hatten im Analysezeitraum ihr Klingelschild in Wien oder Zürich.


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Letzte Änderungen: 05.06.2018