Editorial

Vom Neandertaler zur Bioinformatik

Publikationsanalyse 2007-2016: Evolutionsforschung
von Mario Rembold, Laborjournal 11/2018


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Foto: memecenter.com

In Leipzig sind Forscher dem Ursprung des Menschen auf der Spur und dominieren damit das aktuelle Ranking. Es gibt aber auch Evolutionsforscher, die die Stammesgeschichte der Insekten oder die Radiation von Buntbarschen untersuchen. Die meisten Zitierungen heimsten jedoch bioinformatische Evolutions-Artikel ein.

Vielleicht sollte man in Zeiten „alternativer Fakten“ vorsichtig sein, wenn man Darwins Evolutionstheorie erwähnt. Doch hier bei Laborjournal sind wir ja unter uns. Und unter uns gesagt, ist die Evolution mehr als bloß eine Theorie. Sie ist die beste und bislang einzig plausible Erklärung für die Artenvielfalt auf der einen Seite und die Gemeinsamkeiten zwischen allen irdischen Lebewesen auf der anderen Seite. Zu Darwins Zeiten war es allein die Morphologie, an die man sich zur Rekonstruktion der Abstammung halten konnte. Heute stehen uns zusätzlich noch massenhaft Sequenzinformationen und immer bessere Algorithmen zur Verfügung.

Auch wenn die Evolution als Erklärungsmodell ziemlich alternativlos ist, so sind doch etliche Details noch immer unverstanden oder umstritten. Man denke an die Taxonomen, die ihre „Schubladen“ regelmäßig revidieren. Krebs­tiere beispielsweise gelten für einige Forscher nicht mehr als monophyletische Gruppe, weil aus ihnen möglicherweise auch die Insekten hervorgegangen sind. Und wo wir bei den Insekten sind: Deren Stammbaum sieht heute unter Berücksichtigung molekularbiologischer Daten auch komplizierter aus als noch vor dreißig Jahren.

Evolution interdisziplinär

Viel zu lernen gibt es außerdem bei der Frage nach dem Wie der Evolution. Klar, wir können die Evolution reduzieren auf zufällige Veränderung vererbbarer Sequenzen und einer Auswahl jener Sequenzen, die sich am besten verbreiten. Das „egoistische Gen“ nach Richard Dawkins also. Damit haben wir aber noch lange nicht die Dynamik evolutiver Prozesse verstanden und können uns schon gar nicht auf unsere Intuition verlassen. Denn warum ist Sex so verbreitet, obwohl die einzelne Genvariante damit doch zunächst einem höheren Risiko unterliegt, nicht an den gezeugten Nachkommen weitergegeben zu werden? Warum verzichten Bienenarbeiterinnen auf ihre Fortpflanzung? Und wie kommt es, dass sich Blütenpflanzen und Insekten bei ihrer Evolution scheinbar miteinander absprechen? An Fragen wie diesen toben sich gerne mal Spieltheoretiker aus und untersuchen mathematisch, welche Strategie zu den höchsten Gewinnen führt – in diesem Fall die Häufigkeit einer DNA-Sequenz in der Population.

Beim Zusammenleben zwischen den Arten kommen außerdem die Ökologen mit ins Boot. Während die Taxonomen den Blick in die Vergangenheit richten, schauen die Ökologen auf das Hier und Jetzt sowie die mögliche Zukunft. Sie erforschen Auswirkungen auf die Biodiversität etwa durch Ackerbau oder Klimawandel, erfassen die Ausbreitung invasiver Arten oder sind an Fragen der Populationsgenetik interessiert.

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Die Beispiele zeigen, dass man als Forscher aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf die Evolution schauen kann. Für eine Publikationsanalyse bringt uns diese Vielfalt natürlich in Schwierigkeiten: Ein Spieltheoretiker kann auch Verhaltensforscher oder Wirtschaftswissenschaftler sein. Ein Ökologe schaut zwar auf komplexe Interaktionen zwischen den Lebewesen, doch macht ihn das nicht zwangsläufig zum Evolutionsbiologen. Liest man ein Paper, in dem artübergreifende Genomanalysen und vielleicht sogar phylogenetische Stammbäume vorgestellt werden, kann man sich nicht bei jedem Autor sicher sein, in welche Sparte er gehört.

Das Thema „Evolution“ zieht sich also quer durch die Reihen der Ökologen, Bioinformatiker und Genetiker. Wir haben daher speziell nach Autoren gesucht, die regelmäßig in Fachzeitschriften publizieren, die im Web of Science unter der Kategorie „Evolutionary Biology“ gelistet sind. Weiterhin war die Institutsadresse ein wichtiger Anhaltspunkt. Doch auch jenseits dieser beiden Kriterien gingen uns Forschernamen ins Netz.

Leipzig dominiert

Vierzehn Namen dominieren die aktuelle Köpfe-Liste, die im Analysezeitraum in Leipzig tätig waren – konkret am Max-Planck-Institut (MPI) für Evolutionäre Anthropologie. Sie sind der Evolution des Menschen auf der Spur und schauen sich die Verwandtschaft des Homo sapiens mit seinen rezenten Verwandten und bereits ausgestorbenen Menschenspezies an. Ganz vorn in der Riege der Menschenkundler landet Svante Pääbo und belegt damit Platz 3 der meistzitierten Köpfe. Pääbo leitet eine Arbeitsgruppe in der Abteilung „Evolutionäre Genetik“ und ist Seniorautor des am fünfthäufigst zitierten Artikels. Für diese Arbeit aus dem Jahr 2010 hatten die Forscher die Genomsequenz des Neandertalers anhand von Proben dreier Individuen rekonstruiert und mit der DNA des modernen Menschen verglichen.

In der Autorenliste dieser reichlich zitierten Publikation stehen neun weitere Namen aus den Reihen unserer „Köpfe“. Darunter auch Richard Green (10.), Adrian Briggs (26.) und Michael Richards (27.), die allesamt seit etlichen Jahren nicht mehr in Leipzig arbeiten, sondern inzwischen in den USA forschen. Da sie aber im Analysezeitraum zeitweise ihre Hauptadresse an besagtem MPI und damit im Verbreitungsgebiet hatten, sind sie hier berücksichtigt.

Kommen wir zur Bioinformatik, ohne die moderne Evolutionsforschung undenkbar wäre. Das lässt schon ein Blick auf die Institutsbezeichnungen erahnen: Mehr als zwanzig Prozent der Dienstadressen unserer „Köpfe“ deuten auf ein Interesse an theoretischer Biologie, mathematischen Modellen oder Datenauswertung hin. Noch deutlicher zeigt sich die Bedeutung der Informatik in den Tabellen der zehn meistzitierten Artikel: Die Hälfte der Paper hat Algorithmen zur Datenauswertung zum Thema; die ersten vier Plätze gehören komplett der Bioinformatik. Mit rund 6.500 Erwähnungen die meisten Zitierungen sammelte ein Artikel über eine Software namens Arlequin. Deren damals (2010) neueste Fassung lag in drei Versionen vor und diente der Auswertung populationsgenetischer Daten.


Illustr.: bioinformatics.ua.pt

IT-Experten vorne

Erstautor des Papers ist Laurent Excoffier vom Institut für Ökologie und Evolution der Uni Bern, der in unserer „Köpfe“-Tabelle Platz 6 belegt. Der erfolgreichste Bioinformatiker nach Zitierungen heißt Alexandros Stamatakis, arbeitet am Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS) und steht auf Platz 2 der meistzitierten Evolutionsforscher. Stamatakis hat nicht nur RAxML programmiert – eine Software zum Erstellen phylogenetischer Bäume, um die es auch in zwei der meistzitierten Artikel (Platz 3 und 4) geht. Vielmehr er hat nach eigener Aussage vor seiner Zeit als Bioinformatiker Software für Fluglotsen mitentwickelt. Und um an dieser Stelle auch einen Spieltheoretiker zu erwähnen, sei auf Arne Traulsen (29.) vom MPI für Evolutionsbiologie in Plön verwiesen. Traulsen nutzt Computermodelle, um die zeitlich-räumliche Dynamik evolutionärer Prozesse zu verstehen.

Springen wir vom vorletzten zum ersten Platz der meistzitierten Köpfe – dort steht Detlef Weigel vom MPI für Entwicklungsbiologie in Tübingen. Mit Weigel haben wir einen jener „Grenzgänger“ vor uns, die sich nicht ohne weiteres den Evolutionsforschern zuordnen lassen. Zuletzt tauchte er in unseren Rankings zur Pflanzenforschung und zur Entwicklungsbiologie auf. Ein Blick auf die Webseite seiner Arbeitsgruppe outet Weigel als Allrounder, der neben der Steuerung der Blütenentwicklung und diversen anderen botanischen Fragen auch der Koevo­lution zwischen Pflanzen und deren Parasiten oder der Anpassung von Pflanzen auf molekularbiologischer Ebene auf den Grund geht. Seine fast 18.000 Zitierungen mit 174 Artikeln hat er aber eben nicht allein durch evolutionsbiologische Arbeiten gesammelt, was man bei der Einordnung seiner Platzierung im Hinterkopf behalten sollte.

Mit Markus Fischer (16.) von der Uni Bern haben wir einen weiteren Kandidaten aus einer Grauzone: Biodiversität und invasive Pflanzenarten sind sein Thema – doch damit beschäftigen sich etliche Ökologen und Pflanzenforscher, ohne dass sie uns als Evolutionsbiologen ins Netz gegangen sind. Einige von Fischers Publikationen thematisieren aber die Adaptation und Evolution von Arten, und auf seiner Institutswebseite beschreibt er explizit die „Evolutionäre Ökologie“ als eine seiner Hauptinteressen. Daher haben wir uns nach langem Abwägen entschlossen, ihn hier zu listen.

Klassische Evolutionsforschung

Als Evolutionsforscher im klassischen Sinne dürften Axel Meyer (28.), David Heckel (22.) oder Miguel Vences (21.) durchgehen. Meyer und Vences forschen zur Evolution der Wirbeltiere – wobei sich Meyer besonders für Neunaugen und die Radiation von Buntbarschen interessiert, während Vences die Artenvielfalt von Amphibien und Reptilien untersucht. Heckel hingegen bevorzugt die Wirbellosen und möchte mehr über die evolutionären Beziehungen zwischen den Insekten erfahren.

Soweit also unser thematischer Rundumschlag durch die Evolutionsforschung der letzten Jahre. Normalerweise gehen wir noch auf die regionale Verteilung ein, doch dass Leipzig die Adresslisten dominiert, kam ja bereits zur Sprache. Insgesamt taucht die Stadt in Sachsen neben 16 Forschernamen auf, gefolgt von dreimal Jena und zweimal Bern. Ob man Leipzig deshalb zur Hochburg der Evolutionsforschung küren sollte, sei mal dahingestellt. Schließlich ist die dort untersuchte Stammesgeschichte des Homo sapiens nur ein kleiner Ausschnitt der Evolutionsforschung. Die Dominanz von Leipzig ist aber sehr wohl ein Indiz dafür, dass uns vor allem unsere eigene Geschichte und Herkunft interessiert. Man mag das als chauvinistische Engstirnigkeit abtun. Man kann es aber einfach auch erfrischend finden, dass wirklich einmal Grundlagenforschung im Mittelpunkt steht – ohne dass die Titel der Paper gleich einen Durchbruch in der Alzheimer- oder Krebsforschung suggerieren.


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Letzte Änderungen: 07.11.2018