Räuberische Prokaryoten

von Michaela Petter (Laborjournal-Ausgabe 04, 2004)


Editorial

In den 60er Jahren entdeckten Mortimer P. Starr und Heinz Stolp einen seltsamen einzelligen Organismus, der nach Manier von Bakteriophagen bakterielle Pflanzenpathogene lysierte. Aus den entsprechenden Plaques isolierten sie ein gram-negatives stäbchenförmiges δ-Proteobakterium mit einer einzelnen Flagelle, das sie Bdellovibrio tauften – wörtlich: "gekräuselter Blutegel". Bdellovibrio bacteriovorus ist nur ein Beispiel aus einer Reihe von räuberischen Prokaryoten mit klangvollen Namen wie Lysobacter oder Vampirococcus, die auf Pflanzen genauso jagen, wie im Meer oder im Säugerdarm.

Im Gegensatz zu Bakterien, die eukaryotische Zellen befallen, haben die Prokaryotenräuber jedoch völlig unterschiedliche Mechanismen des Beutezugs entwickelt. Da sie Mikroben effektiv töten, eukaryotische Zellen jedoch unbehelligt lassen, sind sie überdies besonders interessant als potenzielle Hauptdarsteller neuer antibakterieller Therapieansätze. Das Team um Stephan C. Schuster am Tübinger MPI für Entwicklungsbiologie schlägt Bdellovibrio gar als lebendes Antibiotikum vor – ein "U-Boot" quasi, das beispielsweise bei AIDS-Patienten opportunistische Infektionen bekämpfen könnte.

Editorial

U-Boot gegen Infektionen?

Um die molekularen Mechanismen der Jagd aufzuklären, setzten sich Schuster und seine Leute daran, das Genom des Bdellovibrio bacteriovorus-Stammes HD100 zu sequenzieren (Science 303, S. 689). Obwohl es sich mit nur 0,5-2,5 mm Länge um einen verhältnismäßig kleinen Organismus handelt, verfügt Bdellovibrio über ein stattliches Genom von über 3,7 Millionen Basenpaaren auf einem einzelnen zirkulären Chromosom. Etwa die Hälfte der aus der Sequenz abgeleiteten potenziellen Proteine zeigen Homolo-gien zu Proteinen mit bekannten Funktionen. Schusters Team konnte keine Hinweise auf horizontalen Gentransfer zwischen Jäger und Beute finden. Offensichtlich verspeist Bdellovibrio seinen Wirt mit Haut und Haar, beziehungsweise Protein und DNA.

Der Lebenszyklus des Räubers ist in mehrere Phasen gegliedert. In der Angriffsphase bewegt sich das Bakterium mit Hilfe seiner Flagelle extrem schnell vorwärts. Ganze sechs Cluster von Genen sind im Genom für die Motilität verantwortlich. Überraschenderweise spielen bei der Suche nach Beute chemische Sensoren scheinbar keine Rolle – sie treffen vielmehr dank der hohen Beweglichkeit eher zufällig aufeinander.

Der Kollision folgt die Erkennungsphase: Bdellovibrio wirft seine Enterhaken in Form von Pili aus und erreicht eine irreversible Verankerung an der Beute. Pil-Gene für Typ IV-Pili sind in zahlreichen Kopien über das Genom verteilt. Die Autoren schlagen daher einen neuen Mechanismus vor, der die Adhäsion mit der Invasion verbindet: Mit Hilfe der Pili zupft sich Bdellovibrio durch ein zuvor erzeugtes Loch in seine Beute hinein – völlig unabhängig von der Flagelle, die sowieso verloren geht.

Auch den so genannten "Hit-Locus" brachten die Wissenschafter nach der Genomanalyse in Zusammenhang mit der Invasion. Mutationen im Hit-Lokus verursachen einen Phänotyp, der unabhängig von Beute leben kann. Die Wissenschaftler fanden diesen Lokus nun mitten in einer transkriptionellen Einheit mit den bereits charakterisierten Pili- und Adhärenz-assoziierten Genen.

Wie aber durchdringt Bdellovibrio die Zellwand, ohne sie zu zerstören? Der hungrige Prokaryot besitzt ein ganzes Arsenal an hydrolytischen Enzymen, die er lokal auf die Peptidoglykan-Schicht schießt, um ein kleines Loch zu schaffen. Vor der inneren Membran macht der Angreifer allerdings erst mal Halt, um sich im Periplasma einzunisten. Die Lücke wird wieder verschlossen.

Dennoch bleibt der Angriff nicht ohne Spuren. Die befallene Zelle verliert ihre Struktur und kugelt sich zum so genannten "Bdelloplasten" ab. Wie bei der Invasion spielen dabei wahrscheinlich Glykanasen und Peptidasen eine Rolle. Die Peptidoglykan-Schicht bleibt jedoch osmotisch stabil – sodass Bdellovibrio ungestört im Schutze der äußeren Membran schmausen kann. Dazu schickt Bdellovibrio wieder eine Reihe lytischer Enzyme los: DNasen, RNasen, Lipasen, sowie Proteasen und Peptidasen. Deren Gene sind so dicht gepackt wie in keinem anderen, bisher bekannten Genom. Da Bdellovibrio die Gene zur Herstellung von neun Aminosäuren zur Proteinsynthese fehlen, ist er darauf auch angewiesen – genauso wie auf die extrem hohe Anzahl an ABC- und MFS-Transportern, über die er die Bausteine für die eigenen Synthesen aufnimmt. ATP braucht der Schmarotzer indes nicht zu importieren – er besitzt eine vollständige Ausstattung für Enzyme aus Stoffwechselwegen wie Glykolyse oder Fettsäureabbau.

Ebenso kann der Räuber Nukleotide zur DNA-Synthese von Grund auf eigenständig zusammenbauen. Während der Wirt immer stärker abnimmt, wächst der Eindringling zu einem langen Stab heran und beginnt schließlich, sich zu unterteilen und bis zu 15 begeißelte Tochterzellen zu produzieren. Schließlich kommen ein letztes Mal hydrolytische Enzyme zum Einsatz – diesmal, um die geisterhafte Hülle der ausgesaugten Zelle zu sprengen und die jungen Bdellovibrionen freizusetzen.


Ganze Arsenale lytischer Enzyme

Das große Repertoire an lytischen Enzymen birgt sicherlich jede Menge Potenzial für Bakterien-spezifische Therapien. Aber ein lebendes Antibiotikum? Immerhin fehlen Bdellovibrio die Sekretionssysteme III und IV, mit denen er auch eukaryotische Zellen schädigen könnte. Zudem synthetisiert der Räuber ein ungewöhnliches Lipid, das seiner Oberfläche eine äußerst schwache Immunogenität verleiht. Theoretisch also gute Voraussetzungen für eine neue Art der Therapie – insbesondere in Fällen, in denen herkömmliche Antibiotika versagen.


Letzte Änderungen: 20.10.2004