Editorial

Chromothripsis

von Karin Hollricher (Laborjournal-Ausgabe 03, 2011)


Chromothripsis

Bild: iStock/Raycat; Montage: LW

Seit vielen Jahren versteht man Krebs als eine Krankheit, die sich langsam von einer initialen, zunächst noch gutartigen Geschwulst über mehrere pathologische Phasen zu einem bösartigen, metastasierenden Tumor entwickelt. Dieses Geschehen, so die gängige Ansicht, wird von genetischen Mutationen getrieben, die sich mit der Zeit in der Zelle ansammeln. Die Zelle verliert zunehmend die Kontrolle über den Zellzyklus – das Resultat ist ein bösartiger Tumor.


Zelluläre Katastrophe

Es kann aber auch ganz anders sein! Ein einziges, fatales Ereignis kann die Chromosomen einer Zelle völlig zerfetzen. In dem verzweifelten Versuch, zu retten, was zu retten ist, bastelt der molekulare Apparat für DNA-Reparaturen die Bruchstücke wieder zusammen. Klar, dass dabei nichts Vernünftiges herauskommen kann, sondern dass die Zelle – so sie nicht abstirbt – auf unerfreuliche Weise entartet. Denn die DNA-Bastelei führt zu Mutationen, die Zellteilung und Zelltod außer Kontrolle geraten lassen.

Diese Erkenntnis zogen Forscher des Cancer Genome Project am Wellcome Trust Sanger Institute in Hinxton (Großbritannien) aus den Sequenzdaten der Genome von Krebszellen (Cell 2011, 144:24-70). „Es scheint, dass eines oder mehrere Chromosomen einer Zelle in einem einzigen Ereignis sprichtwörtlich in hunderte von Fragmenten zerfallen“, kommentierte Peter Campell vom Sanger Institute den erstaunlichen Befund. Chromothripsis nannten die Forscher dieses Phänomen. Der Name leitet sich von den griechischen Wörtern Chromos (Chromosom) und Thripsis (in Stücke zerfallen) her.

Seit das Sequenzieren ganzer Genome erschwinglich geworden ist, arbeiten sich verschiedene Teams, allen voran die Teilnehmer des Cancer Genome Project und des US-amerikanischen The Cancer Genome Atlas (TCGA), an den Genomen von Krebszellen ab. Ziel ist es, somatische Mutationen und Varianten zu identifizieren, die zur Entstehung von Krebs beitragen.

Strukturelle genomische Veränderungen kann man durch das sogenannte paired-end sequencing identifizieren. Dabei werden jeweils beide Enden von zig Millionen DNA-Fragmenten pro Genom analysiert und in Beziehung zueinander gesetzt. So entdeckten die Forscher des Cancer Genome Project in Zellen von einer Patientin mit chronischer lymphatischer Leukämie (CLL) 42 genomische Umstrukturierungen auf dem langen Arm von Chromosom 4, darunter Deletionen, Verdopplungen und Verschmelzung von Fragmenten, die normalerweise etliche Megabasen voneinander entfernt sind. Letzteres ist ein Hinweis auf DNA-Doppelstrangbrüche.

Außerdem waren in neun Fällen die langen Arme des Chromosom 4 an andere Chromosomen geheftet. Das war insofern überraschend, als man bei bisherigen Untersuchungen der Zellen von Brust-, Lungen- und Pankreastumoren zwar auch genomische Instabilität entdeckte, die Veränderungen aber entweder statistisch über das gesamte Genom verteilt waren und/oder mit erheblicher genomischer Amplifikation einher gingen. Die Änderung der Kopienzahl bei der CLL-Patientin beschränkte sich indes auf das Chromosom 4q und hatte ein typisches Muster: entweder war eine Kopie deletiert oder lag doppelt hintereinander vor. Als die Forscher gut zwei Jahre nach den ersten Tests noch einmal Zellen derselben CLL-Patientin untersuchten, fanden sie die gleichen Auffälligkeiten, aber keine neuen genomischen Veränderungen.

Nach diesem ersten Befund analysierten die Forscher weitere 746 Krebszelllinien mit SNP-Chips. 18 davon zeigten ähnliche Profile hinsichtlich der Kopienzahl, wobei diese Veränderungen sich auf ein ganzes Chromosom, einen Chromosomenarm, die Telomere eines Chromosoms oder einen definierten Zwischenraum beschränkten. In einer Darmkrebszelllinie fanden sich auf einem einzigen Chromosom 239 chromosomal-strukturelle Änderungen. Die typischen chromosomalen Umlagerungen fanden sich durchschnittlich in zwei bis drei Prozent verschiedener Tumortypen, besonders häufig (zwanzig Prozent) bei Knochenkrebszellen.

Die Forscher glauben, die Art der Veränderungen unterstützt ihre Katastrophenhypothese. Als (eine) potenzielle Ursache für diese zytologischen Befunde gelten ionisierende Strahlen (Röntgenstrahlung, radioaktive Strahlung), da sie DNA-Doppelstrangbrüche auslösen.

Was aber auch immer die Ursache für die hundertfache DNA-Zerstückelung ist, sie stellt die DNA-Reparaturmechanismen vor eine unlösbares Aufgabe. Es ist daher wichtig zu wissen, ob sich ein solches Ereignis überhaupt vermeiden lässt und wenn nicht, ob und wie eine daraus entstandene Krebserkrankung heilbar ist.









Letzte Änderungen: 29.04.2011