Editorial

Botulinumtoxin

von Julia Offe (Laborjournal-Ausgabe 5, 2012)

Botulinumtoxin?

Wurstkonserven sind okay, aber was habt ihr
gegen Falten? (Foto: Eric Isselée/ Fotolia)

Was haben Schauspielerinnen ohne Mimik mit einer Dose Wurst gemeinsam? Nicht viel? Doch! Beide könnten das giftigste biologische Molekül der Welt, ein Botulinumtoxin, enthalten. Seine LD50 – die Dosis, die für 50 Prozent der beobachteten Population letal ist – liegt je nach Applikationsform um 1 ng/kg Körpergewicht.

Verantwortlich für vergiftete Wurstkonserven ist ein grampositives, stäbchenförmiges Bakterium namens Clostridium botulinum. Seine Sporen überleben überall und keimen unter anaeroben Bedingungen, wie sie in eingeweckter Wurst bei gleichzeitig gutem Nährstoffangebot vorherrschen, wieder aus und geben das Toxin an ihre Umgebung ab. Solche Konserven sind die Hauptursache für unbeabsichtigte Zufuhr von Botulinumtoxin.

Die ersten Vergiftungssymptome treten einige Stunden bis zwei Tage nach dem Verzehr verdorbener Lebensmittel auf: Übelkeit, gefolgt von Doppeltsehen und steifem Nacken. Letztere Symptome sind ein Zeichen dafür, dass das Gift seinen Wirkort erreicht hat: die Synapsen. Innerhalb weniger Tage lähmt das Gift mehr und mehr Muskeln – der Patient kann schließlich nicht mehr atmen und stirbt.

Doch wie blockiert ein heterodimeres Protein von 146 kDa derart effizient die Muskulatur? – Es verhindert das Ausschütten von Transmittern, genauer gesagt die Fusion der Transmitter-gefüllten Vesikel mit der präsynaptischen Membran. Sowohl auf der Vesikeloberfläche als auch auf der Plasmamembran befinden sich SNARE-Komplexe. Ihre Aufgabe ist es, die beiden Membranen so nahe zusammenzubringen, dass sie fusionieren und die im Vesikel enthaltenen Transmitter in den synaptischen Spalt freigesetzt werden.

Genau hier setzen die verschiedenen Botulinumtoxine an. Die leichten Ketten der Heterodimere wirken als Endopeptidasen und spalten verschiedene Proteine der SNARE-Komplexe. Die Vesikel können nicht mehr mit den Membranen fusionieren, kein Acetylcholin gelangt mehr in den synaptischen Spalt und die Muskeln bleiben schlaff. Aber wie erreicht das Toxin die Neuronen? Der Weg von der Wurstkonserve bis zu den SNARE-Komplexen ist lang. In den oberen Abschnitten des Gastrointestinaltrakts zerlegen Magensäure und Verdauungsenzyme Proteine in ihre Einzelteile, die dann zum Aufbau körpereigener Proteine oder als Energielieferant dienen. Wie übersteht Botulinumtoxin diesen Weg?

Molekulare Schlepper

Um von den Verdauungsenzymen nicht abgefangen und unschädlich gemacht zu werden, braucht das Toxin Helfer. Diese Schlepperbanden haben Forscher von der Medizinischen Hochschule Hannover in Zusammenarbeit mit internationalen Kollegen kürzlich nachgewiesen: Das Botulinumtoxin versteckt sich in einem Proteinkomplex, der es bei dem in Magen und Darm vorherrschenden sauren pH-Wert schützt. Doch sobald es die Darmschleimhaut passiert hat und der pH-Wert wieder steigt, schüttelt es seine Schleuser ab und gelangt unbeschadet weiter – an die Orte, an denen das Gift schließlich wirkt: die neuromuskulären Endplatten (Science 2012, 335:977).

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Das Gefährliche sind also nicht die lebenden Clostridien, sondern die Toxine, die sich in den Konserven angesammelt haben. Die Bakterien selbst haben gegen uns keine Chance – sie kommen gegen die Übermacht unserer Darmflora nicht an. Doch Säuglingen, deren Darm nur wenige Keime enthält, können sie gefährlich werden. Ohne Konkurrenz vermehren sie sich und geben kontinuierlich ihr Toxin ab. Auch wenn dieser Säuglingsbotulismus mit fortschreitender Lähmung selten auftritt und nicht immer tödlich endet, ist Vorsicht geboten: Daher sollten Säuglinge keinen Honig bekommen, denn dieser wird vor dem Abfüllen nicht erhitzt und kann Clostridien enthalten.

Heute vergiftet sich allerdings kaum noch jemand an verdorbenen Wurstwaren. Nachdem bessere Sterilisierungsmethoden die Sporen in Lebensmitteln zuverlässig abtöteten, hatte das Gift seinen Schrecken für lange Zeit verloren und geriet fast in Vergessenheit. Wiederentdeckt wurde es Mitte der 1990er Jahre. Damals begannen Mediziner, sich die lähmende Wirkung des Giftes zunutze zu machen. Sie behandelten Patienten mit dauerhaft verkrampften Muskeln wie beim Schiefhals – dabei ist ein Teil der Halsmuskulatur so verkrampft, dass die Betroffenen nur noch in eine Richtung blicken können. Botulinumtoxin-Injek­tionen in die verkrampften Muskeln wirkten Wunder: Die Patienten konnten ihren Kopf wieder normal bewegen. Auch beim Schielen durch verkrampfte Augenmuskeln hilft das Gift.

Heute kennt jeder Botulinumtoxin. Unter dem Handelsnamen Botox vermarktet es die Schönheitsindustrie. Gezielt und in kleinen Dosen gespritzt lähmt Botox auch dort, wo Muskelkontraktionen zu Falten führen: im Gesicht. Wer seine Stirn nicht mehr erstaunt in Falten legen kann, braucht sich auch keine Sorgen darüber zu machen, dass diese bleiben.

Botox dürfte also der Grund sein, warum Hollywood-Schauspielerinnen oder auch französischen Präsidentengattinnen nicht nur jung aussehen. Das Lächeln wirkt zwar durch die gelähmten Gesichtsmuskeln etwas steif, doch die Stirn runzeln sie jetzt nur noch innerlich.

Wie Forscher aus Basel und Hannover in einer klinischen Studie mit schwer depressiven Patienten herausfanden, wirkt man ohne Stirnrunzeln nicht nur besser gelaunt, man wird es auch tatsächlich. In die Stirn injiziertes Botox linderte die depressiven Symptome deutlich. Die Mimik scheint die Stimmung also nicht nur wiederzugeben, sondern über ein Feedback der Propriozeptoren auch zu regulieren (J Psychiatr Res 2012, 46(5):574-81).

So gefährlich eine Vergiftung mit Botulinumtoxin auch ist, richtig angewendet macht es glatt und glücklich.



Letzte Änderungen: 30.05.2012