Editorial

Nukleosomaler Fußabdruck

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 11, 2016)


Stichwort

Foto: WallDevil / dimitarsizce

Körpereigene Zellen, die entweder nicht mehr gebraucht werden oder nicht mehr richtig funktionieren, sterben meist durch einen kontrollierten Mechanismus: den programmierten Zelltod, auch Apoptose genannt. Ihm verdanken wir das Fehlen von Schwimmhäuten zwischen unseren Fingern oder, dass unsere Zellen nicht unkontrolliert wuchern. Denn eine Störung dieses streng regulierten Prozesses ist ein zentraler Knotenpunkt für die Entwicklung von Krebszellen.

Doch was passiert mit den Überresten einer Zelle, wenn diese gestorben ist? Normalerweise werden sie von Fresszellen des Immunsystems, den Makrophagen, aufgenommen und verdaut. Dabei wird die DNA durch Endonukleasen gespalten und in schwacher Konzentration ins Blutplasma abgegeben. Übrig bleiben kleine DNA-Fragmente, die sogenannten cfDNAs („cell-free DNAs“). Diese müssen keineswegs immer gleich lang sein: Je nach Herkunftsort kann die Größenverteilung dieser DNA-Stücke stark variieren.

Aber gehen wir noch mal ein paar Schritte zurück: Damit das circa 2 m lange menschliche Erbgut in einen ungefähr 10 µm kleinen Zellkern passt, muss es gut verpackt werden. Im ersten Schritt wird die Doppelhelix um Histonproteine gewickelt, sodass der Eindruck einer „Perlschnur“ entsteht. Die Anordnung der so entstandenen Nukleosomen unterscheidet sich je nach Zelltyp zwar nur leicht, trotzdem ist die Variation groß genug, um ganz individuelle cfDNAs zu generieren.

Der Grund dafür: Die Endonukleasen schneiden nicht immer an der selben Stelle, sondern dort, wo sie leicht Zugang finden, folglich vor allem zwischen zwei Nukleosomen. Im Blutplasma schützen die Histonproteine dann die DNA vor weiterem Abbau, wodurch die kleinen Fragmente für kurze Zeit konserviert bleiben. Da in jedem Zelltyp die Anordnung der Histone variiert, ergibt sich ein zellspezifisches Nukleosomen-Muster – quasi wie ein Fingerabdruck.

Matthew W. Snyder, Martin Kircher und ihr Team aus der Abteilung für Genomforschung der Universität in Washington hatten daher vermutet, dass dieser individuelle „cfDNA-Müll“ Rückschlüsse auf deren Zell- und Gewebeursprung ermöglichen könnte.

Detektivarbeit...

Um dies zu untersuchen, lokalisierten sie die Nukleosomen von cfDNA-Fragmenten aus dem Blut gesunder Probanden und bemerkten, dass das Nukleosomen-Muster mit demjenigen hämato­poetischer Zellen übereinstimmte (Cell 164: 57-68). Dies ist keinesfalls verwunderlich, da solche Zellen die Hauptquelle von cfDNA­­s in gesunden Menschen sind (Clinical Chemistry 48: 421-7).

Doch Snyder und Kircher fanden noch etwas viel Interessanteres: Die Blutproben von Krebspatienten enthielten Nukleo­somen-Muster, die nun vorwiegend nicht mehr mit dem hämatopoetischer Zellen übereinstimmte. Vielmehr zeigten sie ganz eigene Nukleosomen-Lokalisationen. Auch zwischen Patienten mit verschiedenen Krebsarten gab es signifikante Unterschiede.

Snyder und Co. konnten die cfDNA-Muster schließlich mit den Krebszelltypen assoziieren, die bei den jeweiligen Patienten tatsächlich vorherrschten. Sie waren somit in der Lage, allein durch die im Blutplasma enthaltenen cfDNA-Fragmente – und damit über den individuellen Nukleosomalen Fußabdruck – die Krebsart der Patienten zu identifizieren.

... mit einer Menge Möglichkeiten!

Auf lange Sicht ließe sich mit diesem Konzept möglicherweise eine Art Bluttest entwickeln – als Alternative zu etablierten invasiven Methoden der Tumordiagnostik, wie etwa der Gewebeentnahme. Diese bedeutet nicht nur Stress für den Patienten, sondern birgt beispielsweise auch ein erhöhtes Infektionsrisiko.

Und nicht nur in der Onkologie könnte das Konzept großen Anklang finden, sondern auch in der pränatalen Diagnostik. Schließlich zirkulieren im Blutplasma schwangerer Frauen DNA-Fragmente des Fötus, die zum Beispiel auf eine Chromosomenanomalie hinweisen können. Krankheiten wie das Down-Syndrom (Trisomie 21) werden schon heute durch eine Blutentnahme mit anschließenden Tests erkannt und sind nach einer neuen Studie dem traditionellen Ersttrimester-Screening (Ultraschall-Frühdiagnostik) überlegen (N Engl J Med 372: 1589-97). Der Nukleo­somale Fußabdruck könnte ergänzend auch andere Erbkrankheiten nicht-invasiv identifizieren.

Ein weiteres potentielles Anwendungsgebiet des Nukleosomalen Fußabdrucks sehen die Autoren in der Transplantationsmedizin. Ein entsprechender Bluttest könnte auf eine Abstoßungsreaktion gegen ein Spenderorgan hinweisen, was sich durch dessen erhöhten cfDNA-Spiegel im Blut bemerkbar macht.

Schließlich könnte das von Snyder und Kircher vorgestellte Konzept auch dabei helfen, den Ursprung von Tumoren festzustellen: Denn in vier bis fünf Prozent der Krebsfälle können Ärzte nicht mit Sicherheit sagen, woher diese genau stammen. Solche Fälle, in denen die Behandlung massiv erschwert ist, nennt man im Fachjargon „CUP“ (cancer of unknown primary).

So vielversprechend das Konzept des Nukleosomalen Fußabdrucks scheint, Snyder und Kircher bleiben vorsichtig. So räumen sie etwa als wichtigen Kritikpunkt ihrer Studie die kleine Anzahl an Versuchen ein. Sie verglichen die Nukleo­somen-Muster von nur acht Blutproben mit den Mustern von 76 Zelllinien; dabei bleibt die Vielfältigkeit der unterschiedlichen Krebsarten außen vor.

Für die Zukunft wollen die beiden ihre Studie auf deutlich mehr Blutproben ausweiten, um deren Nukleosomen-Muster mit denen von mehr Zelllinien vergleichen zu können – mit dem Ziel, das ganze Potential, aber auch die Limitierungen des Nukleosomalen Fußabdrucks vollends zu erfassen.



Letzte Änderungen: 09.11.2016