Editorial

Bürstenzellen

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 6, 2020)


(08.06.2020) Bürstenzellen sind unter Anatomen keine Unbekannten. 1956 stolperten das erste Mal die beiden Schweden Johannes Rhodin und Tore Dalhamn über den Zelltyp, der sich auf elektronenmikroskopischen Aufnahmen des Flimmerepithels aus den Atemwegen einer Ratte versteckt hatte (Z. Zellforsch. Mikrosk. Anat. 44(4): 345-412). Sie tauften die Zellen aufgrund ihrer Form auf den Namen Bürstenzellen – und hatten keinen blassen Schimmer, welche Aufgabe diese in der Luftröhre erfüllen sollten.

Es vergingen genau vierzig Jahre, bis der erste handfeste Hinweis aufblitzte. Dirk Höfer, Bernd Püschel und Detlev Drenckhahn, damals alle an der Universität Würzburg, hatten das Darmepithelium von Ratten genauer unter die Lupe genommen. Darm? Aber hatten die beiden Schweden die Bürstenzellen nicht in den Atemwegen entdeckt? Richtig, doch wie mehrere Studien zeigen konnten, beschränken sich die Zellen nicht auf einen Organtyp, sondern tummeln sich nahezu überall im Körper. So hatten Forscher die bürstenförmigen Zellen auch im Magen von Ratten gesichtet, in der Gallenblase von Mäusen und im Dünndarm von Meerschweinchen sowie anderen Nagern.

Weit verbreitet

Die Würzburger konnten in ihren Experimenten mit spezifischen polyklonalen Antikörpern schließlich die Aufgabe der Bürstenzellen weiter entziffern: Sie zeigten, dass die bürstenförmigen Zellen im Magen und Darm die a-Untereinheit eines trimeren G-Protein-Komplexes exprimieren, der für Geschmacksrezeptorzellen der Zunge spezifisch ist: a-Gustducin (PNAS 93(13): 6631-4). Die Zellen schienen demnach eine chemosensorische Funktion einzunehmen – sie können quasi schmecken.

Jahre später wurde diese Hypothese weiter gestärkt, nachdem ein US-amerikanisches Team um Erstautor Thomas Finger von der University of Colorado in Denver die Bürstenzellen auch in der Nase von Nagetieren gefunden hatte (PNAS 100 (15) 8981-6). Die Forscher zeigten, dass die Bürstenzellen nicht nur a-Gustducin exprimierten, sondern auch T2R, der Rezeptor für den Bittergeschmack. Die Geschmacksrezeptoren für umami und süß fehlten.

Die Gruppe machte noch eine weitere interessante Beobachtung: Brachte sie bitter schmeckende Verbindungen in das Nasenepithel, verlangsamte sich die Atemfrequenz der Ratten und führte nahezu zum Atemstillstand.

Finger et al. schlossen daraus, die von ihnen untersuchten Bürstenzellen im Ratten-Nasenepithel müssten eine lebenswichtige Schutzfunktion haben und quasi als Wächter die Atemwege absichern.

Wächter der Körperöffnungen

Die Annahme einer Wächterfunktion motivierte schließlich ein Team um Wolfgang Kummer von der Justus-Liebig-Universität Gießen, die Bürstenzellen auch in anderen Körperöffnungen zu suchen. Und tatsächlich: Sie entdeckten den bürstenförmigen Zelltyp in der Tuba auditiva, einer Röhre, die das Mittelohr und den Nasenrachenraum miteinander verbindet, am Eingang im Urogenitaltrakt (Urethra) sowie in der Bindehaut des Auges.

Es waren erneut Finger und seine Kollegen, die zeigten, wie der Geschmackssinn der Bürstenzellen mit ihrer Wächterfunktion zusammenhängt. Zellkulturexperimente offenbarten, dass die Bürstenzellen auf das bakterielle Molekül Acyl-Homoserin-Lacton (AHL) des respiratorischen Erregers Pseudomonas aeruginosa reagierten. AHL setzte Signaleffektoren in Gang, die bitteren Geschmack vermitteln, und veränderte die Atmung von Nagern im Tierversuch (PNAS 107 (7): 3210-5).

Ihre Wächterfunktion erfüllen die Bürstenzellen auch im Darm – und zwar bei der Abwehr von Darmparasiten, wie zwei Forschergruppen 2016 unabhängig voneinander berichteten. Die beiden Teams von Philippe Jay vom Centre National de la Recherche Scientifique im französischen Montpellier sowie Wendy Garrett von der Harvard Chan School of Public Health in Boston, USA, entdeckten im Mausmodell, dass Bürstenzellen im Darmepithel häufiger vorkommen, wenn sich die Tiere mit verschiedenen parasitären Würmern infiziert hatten (Nature 529(7585): 226-30; Science 351(6279): 1329-33). Gleichzeitig waren die Parasiten dafür verantwortlich, dass die Bürstenzellen große Mengen Interleukin 25 absonderten, ein Schlüsselmolekül bei der Parasiten-Abwehr. Die Folgen sind eine Typ-2-Immun­antwort, bei der Zellen im Darm mehr Schleim produzieren sowie Flüssigkeit sekretieren, die Darmperistaltik verstärkt in die Gänge kommt und somit die unliebsamen Eindringlinge nach draußen befördert – eine Reaktion, die übrigens auch bei Allergien abläuft.

Doch hinter diesem organübergreifenden Wächter namens Bürstenzelle verbirgt sich in Wahrheit wohl mehr als nur ein Zelltyp. Im Englischen werden die Bürstenzellen bereits anhand ihrer Lokalisation unterschiedlich bezeichnet: In den Atemwegen spricht man etwa von Brush Cells, im Darm von Tuft Cells, häufig lautet die Bezeichnung nur Chemosensory Cells. Aber selbst diese Unterteilung dürfte nicht reichen. Denn die meisten Bürstenzellen sind zwar vom Transkriptionsfaktor Pou2f3 abhängig – aber eben nicht alle.

Gleich und doch verschieden

Außerdem unterscheiden sich die Rezeptorexpressionsmuster der bürstenförmigen Zellen von Organ zu Organ teils deutlich. Der Gießener Anatom und Zellbiologe Kummer fasst das auf Anfrage wie folgt zusammen: „Da also einerseits die chemosensorischen Bürstenzellen der verschiedenen Organe unterschiedliche Rezeptoren exprimieren und wohl auch dort unterschiedliche Reaktionen auslösen, andererseits mindestens noch ein weiterer Zelltyp existiert, der ähnliche Strukturmerkmale hat, aber dessen Funktion ungeklärt ist, sollte nicht für alle diese Zellen langfristig der gleiche Name verwendet werden.“ Kummer, Finger und weitere Kollegen seien sich deshalb einig: die Namensgebung der Bürstenzellen müsste dringend einmal überarbeitet werden.



Letzte Änderungen: 08.06.2020