Editorial

Seneszenz

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 3, 2021)


(08.03.2021) Im Laufe unseres Lebens funktioniert unser Körper mit seinen Geweben und Organen immer schlechter, es schleichen sich stetig neue Wehwehchen ein. Und auch auf zellulärer Ebene finden Alterungsprozesse statt, die als Seneszenz bezeichnet werden. Seneszente Zellen teilen sich nicht mehr und fallen wie in eine Art Tiefschlaf. Dabei sind sie nicht mehr wirklich am Leben, tot sind sie aber auch nicht. Gelegentlich erhalten sie deshalb den Spitznamen „Zombie-Zellen“.

Das Phänomen beschrieben zum ersten Mal 1961 die US-amerikanischen Gerontologen Leonard Hayflick und Paul Sydney Moorhead in humanen Fibroblasten (Exp. Cell Res. 25: 585-621). Sie vermuteten damals, die Seneszenz sei eine Art Schutzmechanismus: Zu alte Zellen schicke der Körper demnach in den Ruhestand, bevor sie gefährlich werden können, indem sie beispielsweise entarten.

Gefährlich alt

Die Gerontologen hatten nicht Unrecht. Ein Team um Jan van Deursen von der Mayo Clinic in Rochester, USA, stellte die ausschließlich guten Absichten der Seneszenz jedoch Jahre später in Frage. Eine von der Gruppe konstruierte Mausmutante, bei der die Chromosomentrennung bei der Zellteilung beeinträchtigt ist, zeigte einen merkwürdigen Phänotyp. Die Forscher hatten erwartet, die Chromosomeninstabilität würde zu vermehrter Tumorbildung führen – doch das genaue Gegenteil war der Fall: Die Tiere entwickelten kaum Krebs, schienen allerdings vorzeitig zu altern (Nat. Genet. 36: 744-9). Die Mäuse entwickelten schon in jungen Jahren typische Alterserscheinungen wie Grauer Star, Muskelschwund und beeinträchtigte Wundheilung. Zusätzlich litten die Tiere unter Zwergenwuchs und Unfruchtbarkeit. Es stellte sich schließlich heraus, dass der Körper seine Zellen fortschreitend in einen Schlafzustand schickte, die Organe waren voll mit seneszenten Zellen.

Zombie-Zellen befeuern Alterungsprozesse aus zwei Gründen: Erstens kommt der Zellzyklus von Vorläuferzellen zum Stillstand, wodurch Gewebe nicht mehr richtig repariert werden können. Zweitens können seneszente Zellen einen giftigen Cocktail produzieren, der aus Interleukinen, Chemokinen, Wachstumsfaktoren, Enzymen und inflammatorischen Zytokinen besteht, mit dem sie sich auch vor dem eigenen Immunsystem schützen. So schädigen oder töten sie sogar umliegendes Gewebe und bauen die Matrix ab. Entsprechende Zellen haben einen sogenannten seneszenzassoziierten sekretorischen Phänotyp (SASP) und unterdrücken den programmierten Zelltod, die Apoptose.

Mit fortschreitendem Alter häufen sich im Körper immer mehr dieser Zombie-Zellen natürlicherweise an, das Immunsystem kann sie zwar teilweise noch erkennen und beseitigen, kommt mit zunehmender Anzahl mit den Aufräumarbeiten aber nicht mehr hinterher.

In der Zellkultur erreichen Zellen das Seneszenz-Endstadium nach zwei bis sechs Wochen, die Auslöser für die Stilllegung sind vielfältig. DNA-Schäden etwa durch altersbedingte Telomerverkürzung, aber auch Mutationen können Seneszenz begünstigen. Die Behandlung mit Chemotherapeutika oder die abberante Aktivierung von Onkogenen können Zellen ebenfalls in den Tiefschlaf versetzen. Seneszente Zellen sind Treiber von diversen Erkrankungen, die vor allem im Alter den Menschen das Leben schwer machen – etwa Demenz, Arteriosklerose, Diabetes und Arthritis.

Domhnall McHugh und Jesús Gil vom Imperial College in London fassten 2018 in einem Übersichtsartikel zusammen, an welchen Orten im Körper sich seneszente Zellen bei diversen Erkrankungen tummeln (J. Cell Biol. 217 (1): 65-77). In diabetischen Mäusen beispielsweise sind Seneszenzmarker erhöht und auch das Risiko, eine nichtalkoholische Fettlebererkrankung zu entwickeln, steigt mit den Jahren und kann durch das Vorhandensein seneszenter Hepatozyten vorhergesagt werden.

Ein ambivalentes Verhältnis besteht zu Krebserkrankungen. Gealterte Gewebe mit SASP stehen im Verdacht, als unterstützende Nische für Krebs zu fungieren. Seneszente Zellen können zur Tumorprogression beitragen, etwa indem sie das Proliferationspotenzial von Krebszellen erhöhen.

Eine positive Auswirkung der Seneszenz beschrieben dagegen Lars Zender (mittlerweile an der Uni Tübingen) und Kollegen vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig sowie anderen deutschen Institutionen. Sie beobachteten in einer Nature-Studie, wie das Immunsystem prämaligne, seneszente Hepatozyten erkennt und beseitigt (479(7374):547-51). Der Clou: Die körpereigene Abwehr stellt schlafende Zombie-Zellen unter eine verschärfte Kontrolle und erkennt dabei auch bösartige Zellen besser. Im Versuch konnten Lebertumore so in Schach gehalten werden.

Strenge Kontrolle für Schläfer

In diesem Fall scheinen die positiven Effekte nicht direkt von den seneszenten Zellen auszugehen. Vielmehr triggern sie das Immunsystem, das anschließend eine gründlichere Arbeit leistet. Viele Forscher vermuten, der SASP sei der Ursprung allen Übels und eine Unterdrückung die beste Lösung, altersbedingte Erkrankungen in den Griff zu bekommen. 2011 beobachteten van Deursen und sein Mayo-Clinic-Kollege James Kirkland allerdings, dass es genügt, die seneszenten Zellen einfach aus dem Organismus zu werfen (Nature 479: 232-6).

Im Zusammenhang mit Hirnerkrankungen zeigte Darren Barker, ebenfalls aus dem Stalle Mayo Clinic, Ähnliches. Mit zunehmendem Alter sammeln sich seneszente Zellen im Gehirn von Mäusen an. Barker untersuchte 2018, wie sich das Entfernen dieser Zellen auf ein Mausmodell mit neurodegenerativer Erkrankung auswirkt (Nature 562: 578-82). Das Ergebnis: Der kognitive Verfall stoppte. Aber wie beseitigt man die Tiefschläfer, wenn sie doch clevere Strategien entwickelt haben, sich dem Immunsystem zu entziehen und die Apoptose auszuschalten? Die Antwort darauf erhalten Sie in der Fortsetzung dieses Textes im nächsten Heft unter dem Stichwort „Senolytika – mit senolytischen Medikamenten toxische Zombie-Zellen bekämpfen“.



Letzte Änderungen: 08.03.2021