„Antragschreiben? Ich hasste jede Minute davon!“

5. November 2018 von Laborjournal

Wann sollte man einen Forscher besser nicht ansprechen? — Antwort: Wenn er gerade an einem Förderantrag schreibt.

„Immer wenn ich an einem Antrag arbeite, fühle ich mich wie ein verwundetes wildes Tier“, schrieb einmal sinngemäß ein Betroffener. „Sobald ich irgendwie nicht weiterkomme — und das passiert leider oft —, kauere ich voller Schmerzen in meiner Ecke. Mir wird heiß, ich atme schneller, beiße die Zähne zusammen und blicke mit gehetztem Blick um mich herum — auf der verzweifelten Suche nach Linderung durch die richtige Idee. Wenn dann jemand reinkommt und irgendetwas will, kann er schnell einen Finger verlieren oder sonst etwas — selbst wenn die betreffende Person sich nur Sorgen gemacht hat und mir helfen will.“

Okay, das ist sicher gnadenlos überspitzt. Wäre es tatsächlich jedes Mal so schlimm, müsste sich unser Forscher aus gesundheitlichen Gründen wohl besser bald einen anderen Job suchen. Dennoch dürfte sich jeder, dem das Antragschreiben nicht allzu leicht aus den Fingern fließt, darin prinzipiell wiedererkennen.

Das Dumme ist: Den Meisten fließen die Anträge nicht aus den Fingern. Und so sehen sie sich stets stärkeren „Qualen“ ausgesetzt, da die Frequenz des Antragsschreibens zuletzt immer mehr zugenommen hat.

Der US-Computerwissenschaftler Matt Welsh beispielsweise verließ vor einigen Jahren genau aus diesem Grund die Harvard University und arbeitet seitdem für Google. Er schrieb damals dazu in seinem Blog Volatile and Decentralized:

„Die größte Überraschung war, wie viel Zeit ich für die Finanzierung meiner Forschung aufbringen musste. Obwohl es natürlich variiert, schätze ich, dass ich etwa vierzig Prozent damit verbracht habe, irgendwelchen Fördermitteln hinterher zu jagen — entweder direkt, indem ich Anträge schrieb, oder indirekt über Firmenbesuche, Gespräche oder Netzwerkpflege. Es ist einfach ein riesiger Zeitaufwand, der leider nur selten direkt zum konkreten Forschungsprogramm beiträgt — sondern lediglich investiert werden muss, um die Räder am Laufen zu halten.“

Vierzig Prozent! Das ist genau das Ergebnis, zu dem eine Studie der US-Regierung bereits vor knapp zehn Jahren kam. Damals schrieb der Scientific American in einem Artikel mit dem Titel „Dr. No Money“ darüber:

„Die meisten Wissenschaftler finanzieren ihre Labore (und oftmals sogar ihre eigenen Gehälter), indem sie Fördermittel bei staatlichen Institutionen und privaten Stiftungen beantragen. Dieser Prozess ist mittlerweile zu einem großen Zeitfresser geworden. Eine Studie der US-Regierung aus dem Jahr 2007 kam etwa zu dem Ergebnis, dass die Mitglieder universitärer Fakultäten im Schnitt rund vierzig Prozent ihrer Arbeitszeit damit verbringen, durch das entsprechende bürokratische Labyrinth zu navigieren. Und in Europa ist die Situation keineswegs besser.“

Nimmt man Otto Warburgs berühmten und erfolgreichen (!) Mini-Antrag von 1922, der lediglich aus den Worten „Ich benötige 10.000 (zehntausend) Mark“ bestand, so muss man unweigerlich festhalten: Das Einwerben von Fördermitteln ist aus der Peripherie des Forschertreibens längst in dessen Zentrum gerückt. Dies jedoch nicht nur, weil Forschungsanträge mittlerweile so viel mehr Hirn und Zeit in Beschlag nehmen. Nein, eine mindestens genauso gewichtige wie alarmierende Ursache ist, dass die eingeworbenen Fördermittel schon längst nicht mehr nur dazu dienen, die Ausgaben für die eigene Forschung zu bewältigen. Vielmehr werden sie heutzutage allzu gerne zu einer Stellvertreter-Messgröße zweckentfremdet, die vermeintlich auf simple Weise wissen­schaft­li­che Erfolge und Verdienste widerspiegelt. Die Konsequenz: Es zählen immer weniger die unmittelbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse, wenn es darum geht, Verdienste und Qualität von Forschern samt ihrer Gruppen zu ermessen — als vielmehr deren Geschick und Können, erfolgreich Fördergelder einzusammeln.

Sicher eine mehr als zweifelhafte Schwerpunktverschiebung, zu der man natürlich auch jede Menge süffisante Kommentare findet: „Ich kann locker einen ganzen Tank leerfahren — und trotzdem nur im Nachbarort ankommen“, ist einer davon; „Ich schätze ja auch nicht den Wert eines Gemäldes anhand der Gesamtsumme für verbrauchte Pinsel, Farben und Leinwand“, ein anderer.

Der US-Psychiater Walter Brown drückte es vor ein paar Jahren in seinem Essay „Hate Grant Writing“ in The Scientist konkreter aus:

„Es gibt Wissenschaftler, die haben alles, was es braucht, um gute Wissenschaft zu machen, können aber nicht mal einen Antrag für eine Pipette schreiben. Und es gibt Wissenschaftler, die sichern sich einen Grant nach dem anderen, ohne dass sie damit irgendetwas Lohnendes zustande bringen. Wenn wir sie alle zwingen, beides auf gleichermaßen hohem Niveau zu leisten, riskieren wir, dass wir viel gute Forschung verlieren.“

Und am Ende fährt Brown fort:

„Zwanzig Jahre lang habe ich jetzt Anträge geschrieben — an staatliche Organisationen, an Stiftungen und an Pharmaunternehmen. Manche gingen durch, manche nicht. Aber eines ist klar: Ich hasste jede Minute davon.“

Wenn man an irgendeinem Institut also jemanden mit fehlendem Finger sieht: Die Ursache muss nicht unbedingt ein Laborunfall gewesen sein… 😉

Ralf Neumann

 

(Dieser Text erschien bereits als Editorial in der Laborjournal-Printausgabe 6/2017. Wir bringen ihn hier nochmals in leicht überarbeiteter Form. Der „Forscher Ernst“-Cartoon stammt wie immer von Rafael Florés.)

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2 Gedanken zu „„Antragschreiben? Ich hasste jede Minute davon!““

  1. MaliF sagt:

    Das geht ja nicht nur einem Forscher so. Wenn ich mich durch einen Bafögantrag kämpfe oder aber ganz profan für meinen Bachelor online etwas machen, da will ich auch nicht gestört werden. Ich glaub aber das geht jedem so, wenn er sich auf eine Sache konzentriert

  2. Laborjournal sagt:

    Wie man effiziente Forschungsförderung ganz ohne Anträge, sondern stattdessen mit einer schlanken Peer-to-Peer-Förderung praktizieren könnte, beschrieb unser „Wissenschaftsnarr“ bereits vor anderthalb Jahren in LJ 6/2017: https://www.laborjournal.de/rubric/narr/narr/n_17_06.lasso

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