Wie fließt wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn?

9. September 2015 von Laborjournal

Vor kurzem den folgenden Flow Chart zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn gefunden:

 

 

Okay, es waren Schüler, die ihn erstellt haben, und die Veranstaltung zielte primär auf Scientific Writing. Dennoch lohnt es sich, mal kurz darüber nachzudenken. Gerade weil das Flussschema so wohl nicht ganz richtig ist — zumindest, was die experimentelle Forschung betrifft.

Zuerst einmal ist es schön, dass die Schüler als letzten Schritt das (Mit-)Teilen der Resultate und Schlussfolgerungen aufgenommen haben. Genauso wie sie damit angedeutet haben, dass die mitgeteilten Resultate in aller Regel wieder neue Fragen aufwerfen — wodurch der Kreislauf in die nächste Runde geht. Robuster Erkenntnisgewinn funktioniert tatsächlich meist über solche mehrfach durchlaufenen Zyklen.

Was allerdings stört, ist die Position der Beobachtung im Zyklus. Die kommt sicherlich nicht nach der Hypothese, da kommen — zumindest in der experimentellen Forschung — eben die Experimente. Die Beobachtung kommt vielmehr vor den Fragen. Denn Fragen kann ich schließlich nur stellen, wenn ich etwas beobachtet habe, was ich nicht (ganz) verstanden habe.

Aus einer Beobachtung formuliere ich also eine Frage, zu der ich anschließend eine Hypothese entwickle, wie die Antwort aussehen könnte. Diese Hypothese taugt für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn allerdings nur, wenn sie testbar ist — das heißt, wenn ich konkret Experimente durchführen kann, um die Hypothese auf Herz und Nieren zu testen.

Klar, was passiert, wenn die Resultate meiner Experimente die Hypothese widerlegen beziehungsweise falsifizieren: Ich muss zurück zur Frage und meine Hypothese modifizieren, oder mir gar eine völlig neue ausdenken.

Für das Flussschema sollte es allerdings erstmal egal sein, ob die Resultate letztlich die Ausgangs-Hypothese bestätigen oder nicht. Denn negative Resultate liefern oftmals genauso wichtige Schlussfolgerungen wie positive Resultate. Folglich sollten alle Ergebnisse und Schlussfolgerungen (mit-)geteilt werden. Schließlich ist auch die Mitteilung, dass sich eine bestimmte Hypothese als nicht haltbar erwiesen hat, oftmals enorm wichtig für die Kollegen. (Leider hat das Mitteilen solcher negativer Ergebnisse momentan nicht den Stellenwert bei den Mitteilungs-Organen, der ihnen eigentlich zusteht.)

Fassen wir also neu im Schema zusammen:

 

Bleibt noch, den Pfeil vom Mit-Teilen zu den Beobachtung(en) zu klären. Erst wenn neue Resultate samt Schlussfolgerungen mitgeteilt sind, können die Kollegen sie lesen und studieren — also quasi beobachten — und daraus wieder neue Fragen formulieren und Hypothesen entwickeln. Ganz nach dem Motto: „Ah, wenn das so ist, dann stellt sich aber die Frage, ob und wie…“ Womit Zyklus wieder los geht und am Laufen bleibt…

Überhaupt versteckt sich hinter den Beobachtungen mehr, als das Wort an sich erstmal vermuten lässt. Denn in der biologischen Forschung muss man vieles erst einmal beobachtbar machen. Nehmen wir etwa die ersten Bilder von Zellen, als das Mikroskop gerade eingeführt war. Das waren klare Resultate, durchaus auch schon mit der ein oder anderen Schlussfolgerung versehen — vor allem aber konnte man die Zellbilder, und dann auch weitere Zellen, erst einmal beobachten. Und dann, klar: Fragen, Hypothesen,… Zyklus eben!

Oder die mannigfach erstellten Genomsequenzen. Auch die sind klare Resultate samt der ein oder anderen Schlussfolgerung, die jedoch kaum einer wohlformulierten, vorangestellten Hypothese entspringen. Vielmehr „macht“ man eine Genomsequenz heutzutage vor allem, um gewissermaßen eine neue Beobachtungs-Ebene als Basis für nachfolgende Hypothesen-basierte Erkenntniszyklen zu schaffen. Die mitgeteilten Sequenzen können folglich (wiederum mit diversen Hilfsmitteln) von allen möglichen Kollegen beobachtet werden, die anschließend genetische/molekularbiologische Fragen zum Gesehenen formulieren und testbare Hypothesen dazu entwickeln. Oder sie nutzen das frische „Sequenzmaterial“, um neue Experimente zum Test bereits bestehender Hypothesen zu entwerfen.

Dass die „Genom-Ersteller“ — wie auch die ganzen anderen Omik-Forscher — daher ihre Forschung im Gegensatz zur Hypothesen-basierten Forschung als Hypothesen-generierende Forschung bezeichnen, trifft die Sache folglich sehr gut.

Und es zeigt noch einen wichtigen Punkt: Auch wenn es durchaus Quereinstiege gibt — neue Erkenntniszyklen werden weitgehend über die Ebene der Beobachtungen angeworfen. Und genau aus diesem Grund ist die Hypothesengenerierende Forschung, die viele neue Beobachtungen überhaupt erst ermöglicht, heutzutage wichtiger denn je.

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4 Gedanken zu „Wie fließt wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn?“

  1. Panagrellus sagt:

    Mir gefällt das ursprüngliche Schema besser. Man muss sich halt dazudenken, dass man viele “ Observations“ nur machen kann, wenn man experimentiert. Die Post-It-Version hat aber den Vorteil, dass sie halbwegs allgemeingültig ist. Auch nicht-experimentelle Forschung ist Wissenschaft, z. B. wenn ein Verhaltensforscher oder ein Paläontologe nur beobachtet und beschreibt, ohne einzugreifen.

    Ich gaube auch nicht, dass sich das Schüler mal so eben ausgedacht haben, vielmehr wird das in angelsächsischen Lehrbüchern zur „Scientific Method“ meist so oder ähnlich dargestellt.
    Wenn man mehr ins Detail geht, z. B. explizit „Testen und Verwerfen von Nullhypothesen durch Experimente“ einführt, kommt man schon wieder in Schwierigkeiten. Z. B. weil eben nicht alle Wissenschaft so funktioniert, wie Popper das gerne gehabt hätte.

    Das ist ja überhaupt lustig: dass es den Wissenschaftsphilosophen anscheinend nicht recht gelingen will, wirklich allgemeine Prinzipien herauszuarbeiten, wie Forschung eigentlich funktioniert. Das kommt eben immer auf den jeweiligen Forschungsgegenstand und die Fachtraditionen an. Die Forscher machen halt wie sie meinen.

    Das grobe Schema mit den gelben Post-Its trifft’s aber meist schon irgendwie, mit Modifikationen.

    Bei deiner Version stehen auch die „Beobachtungen“ an einer seltsamen Position – das sind ja dann keine eigenen Beobachtungen mehr, sondern eher „Vorwissen“ oder „gängige Theorien“.

  2. Ralf Neumann sagt:

    Ich schrieb ja auch explizit, dass das Schema zumindest für die experimentelle Forschung nicht stimmt – schon alleine, weil Experimente im Schema gar nicht auftauchen.

    Zu Folgendem:

    Bei deiner Version stehen auch die “Beobachtungen” an einer seltsamen Position – das sind ja dann keine eigenen Beobachtungen mehr, sondern eher “Vorwissen” oder “gängige Theorien”.

    Da hast du meinen Punkt offenbar nicht verstanden. Früher hat man die Natur beobachtet und dann Fragen gestellt. Also stand die Beobachtung klar vor den Fragen. Heute „beobachtet“ man zunehmend Zellen oder DNA-Sequenzen, um Fragen zu stellen. Um die aber genau beobachten zu können, braucht man jede Menge (Methoden-orientierte) Forschung, die diese Dinge in diesem Rahmen überhaupt erst beobachtbar macht. Das hat mit „Vorwissen“ oder „gängigen Theorien“ nix zu tun.

    Das heißt aber, dass es immer mehr Forschung gibt, die ohne explizit vorgeschaltete Hypothesen schlichtweg nur neue Beobachtungsebenen liefern will. Und wo man etwas neu beobachten kann, kann man auch ganz neue Fragen stellen…

    Für mich ist es demnach qualitativ das Gleiche, ob ich beispielsweise einen Regenwurm beobachte und mich frage, wie er ohne Beine vorwärts kommt – oder ob ich in der Genomsequenz des Tieres X eine auffällige Häufung junger Pseudogene beobachte und mich frage, was da in der jüngeren Entwicklungsgeschichte der X-Linie wohl Besonderes passiert ist.

    Nur ist die Beobachtungsebene „Baum“ einfach da – die Beobachtungsebene „Genomsequenz“ muss ich mir erst hart erarbeiten. Durch Forschung! Und deswegen kommt die Beobachtungsebene „Genomsequenz“ gleichsam nur durch Resultate zustande – wenn man so will.

  3. Panagrellus sagt:

    „Ich schrieb ja auch explizit, dass das Schema zumindest für die experimentelle Forschung nicht stimmt – schon alleine, weil Experimente im Schema gar nicht auftauchen.“

    – Die Experimente stecken implizit im Schema drin, als ein Hilfsmittel, um Beobachtungen zu machen. Insofern ist das Schema nicht falsch, sondern nur allgemeiner gehalten.

    Und hinter jeder Forschung stehen Fragen. „Hypothesen-lose Forschung“ wie z.B Genomsequenzierungen heißt ja nicht, dass man nicht trotzdem Fragen beantworten will- die aber allgemeiner gehalten sind und nicht spezifische Hypothesen testen. Und diese Fragen (z.B. „Wie sieht die Genomsequenz des Zitronenhais aus?“) bauen auf früherem Wissen auf (z.B „Gene sind in der DNA-Sequenz kodiert“).

    Insofern kommen nach „Schlussfolgerungen“ und „Teilen“ erst wieder neue „Fragen“, bevor es mit dem Beobachten weiter geht- also wie im oberen Diagramm.

    Sonst ist die Datensammelei, finde ich zumindest, (noch) keine Wissenschaft.
    Beispiel: Google Maps fotografiert den ganzen Globus. Viele Beobachtungen, viele Daten werden gesammelt. Aber Wissenschaft ist das nicht, sondern ein Business.

    Wenn jetzt aber jemand hergeht und in den Google-Bildern die Orientierung aller fotografierten Kühe auswertet, um zu sehen, ob sie sich nach dem Magnetfeld ausrichten – dann geht man mit einer Frage an den Datensatz heran und beginnt, Wissenschaft damit zu betreiben (ob die dann was taugt, ist wieder eine andere Frage …).

  4. Ralf Neumann sagt:

    Sehe ich anders. Vielleicht weil ich die Analyse der fertigen Resultate und Schlussfolgerungen formell schon wieder als „Beobachten“ ansehe. Und die Analysen bieten die Grundlage für neue Fragen. Siehe Beispiel oben: „Huch, so viele Pseudogene im Genom — was war denn da in der Evolution los?“

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