Editorial

Bärtierchen und die Launen der Evolution

(22.3.16) Bärtierchen sind immer für eine Überraschung gut. Selbst die intrazellulären Stützproteine der Tardigrada sind ungewöhnlich und beweisen: die Evolution ist mal wieder verschlungene Wege gegangen.
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© Schokraie et al, PLoS ONE 7(9): e45682 cc-by

Bärtierchen sind Verwandte der Arthropoden, aber anders als Insekten oder Krebse haben sie kein hartes Außenskelett. Wie also erhalten die Gewebe der Wasserbären ihre Festigkeit? Wieso marschieren die exzentrischen Tierchen so knuddelig-prall daher und liegen nicht als formloser Zellklumpen am Boden? Bei anderen Bilateria ohne Außenskelett geben Stützproteine, die "cytoplasmatischen Intermediärfilamente", den Zellen von innen Stabilität. Diese Proteinklasse fehlt den Arthropoden; einer Hypothese zufolge eben deshalb, weil sie nach der Evolution des Außenskeletts nicht mehr nötig waren. Und bei den Tardigrada?

Die Bärtierchen und auch die Stummelfüßer (Onychophora) sind nahe Verwandte der Arthropoden und unterscheiden sich in vieler Hinsicht von anderen Bilateria. Zoologen um Georg Mayer (Universität Kassel) haben sich also auf die Suche nach den cytoplasmatischen Intermediärfilamenten der Bärtierchen gemacht – und erst einmal nichts gefunden. Diese Sorte Stützprotein ist offenbar schon in der Linie des gemeinsamen Vorfahren von Arthropoden, Bärtierchen und Stummelfüßern verloren gegangen (siehe die orange Linie im schematischen Stammbaum aus dem Paper der Kasseler, eLife 5:e11117):

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 Allerdings fanden die Forscher in ihrem Modell-Bärtierchen Hypsibius dujardini  gleich drei Varianten des Proteins Lamin, die aus Genverdopplungsereignissen hervorgegangen sind (blaue bzw rote  Linien im Diagramm). Lamine kennen Zellbiologen eigentlich als Kernproteine. An der Innenseite der Kernhülle sorgen sie für Struktur, sie sind aber auch an Signalprozessen beteiligt.

Zwei der drei Bärtierchen-Lamine scheinen auch genau diese gut bekannte Funktion als Kernhüllen-Verstärker zu haben, wie bei anderen Bilateria auch – soweit keine Überraschung. Das dritte Lamin dagegen ist seltsam: Es hat beispielsweise keine Kernlokalisierungssequenz (NLS), die dafür sorgt, dass Proteine in den Zellkern gelangen können.

Antikörper-Färbungen zeigten dann auch, dass das ominöse dritte Lamin tatsächlich im Cytoplasma bleibt und dort gürtelförmige Stützstrukturen

in Zellen der Epidermis und des Vorderdarms bildet (siehe unten, rot). Mit anderen Worten: Es nimmt bei den Bärtierchen die Funktion der cytoplasmatischen Intermediärfilamente ein, die in der Stammesgeschichte verloren gegangen waren.

Da dieses Alien-Lamin strukturell und funktionell etwas ganz anderes ist als das Äquivalent in anderen Bilateria, ist es wohl berechtigt, dass die Autoren ihrem Fund einen eigenen Namen gaben: "Cytotardin".

Nachdem das cytoplasmatische Intermediärfilament nun mal endgültig verloren gegangen war, hat "die Evolution" später einfach eine ganz neue Lösung für das Problem Zellgerüst gefunden - eben das Cytotardin. Dazu wurde eine Extra-Kopie eines existierenden Proteins rekrutiert, das an einem anderen Ort (im Zellkern) einen ähnlichen Job gemacht hat.

"Neofunctionalization" heißt dieser Prozess.

Die Kasseler Zoologen haben ein schönes Beispiel für die verschlungenen Pfade der Evolution gefunden, die eben kein planender Ingenieur ist, sondern eine kreative, chaotische Bastlerin, die wild mit dem Material improvisiert, das gerade in der Werkstatt herumliegt.

 

Hans Zauner

 Abbildungen 2-4 aus der Originalveröffentlichung: Hering et al, eLife 2016; 5: e11117, Lizenz: cc-by

 

 

 



Letzte Änderungen: 10.05.2016