Editorial

Mit zweierlei Maß? Placebo-Ethik in der Medizin

(22.6.16) Im Juniheft widmen wir einen Hintergrundartikel dem Placeboeffekt und seinen Auswirkungen. Darf man Placeboeffekte zum Wohl der Patienten einsetzen, selbst wenn dabei die Aufklärung auf der Strecke bleibt? Und worin besteht dann der Unterschied zu Homöopathie & Co.?
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© Kzenon / Fotolia

Kaum etwas löst unter Laborjournal-Lesern so viel Emotionen aus wie dieses eine Wort: Homöopathie! Na, geht Ihr Puls schon nach oben? Denken Sie jetzt an Pseudowissenschaften und Scharlatanerie? Dass es vielen Patienten nach der Behandlung mit verdünntem gar nichts trotzdem besser geht, liegt ja nur am Placeboeffekt, werden Sie argumentieren. Also ist dieser Humbug abzulehnen!

Doch kann es sein, dass wir hier mit zweierlei Maß messen? Denn dem Placeboeffekt verdanken nicht nur Zuckerkügelchen ihre Wirksamkeit, sondern auch einige handfeste pharmakologische Wirkstoffe, wie Studien der letzten Jahre nahelegen. 2008 nahmen Irving Kirsch et al. einige Serotonin-Wiederaufnahmehemmer in einer Metaanalyse unter die Lupe und stellten fest, dass die bei leichten und mittelschweren Depressionen kaum besser wirken als Scheinmedikamente (PLoS Med. 5 :e45). Vor zwei Jahren untersuchten Christopher Williams und Koautoren den Effekt von Paracetamol bei Rückenschmerzen. Fazit: Die Patienten fühlten sich nach Placebo-Medikation genauso gut wie nach Einnahme des echten Wirkstoffs (Lancet 384: 1586-96).

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Schmerzpatienten sprechen immer besser auf Placebobehandlungen an

Gerade in Sachen Schmerz springen viele Betroffene wohl besonders gut auf Placebotherapien an. Abschätzen kann man das in Studien zum Beispiel über Fragebögen: Man schaut, um wie viel besser es der Gruppe mit dem pharmakologischen Wirkstoff geht und vergleicht diese Zahl mit der Verbesserung in der Placebogruppe (es gibt natürlich auch sehr viel differenziertere Erhebungen zu Placeboeffekten mit mehr als nur zwei Gruppen). Ein wirksames Präparat wird dabei besser abschneiden als die Scheinbehandlung. Je größer der gemessene Abstand zwischen Fall- und Placebogruppe, desto besser ist die spezifische Wirkung des Medikaments.

Nun berichten Forscher aber über einen eigenartigen Trend bei Schmerzmittelstudien, zumindest in den USA: Besagter Abstand zwischen beiden Gruppen wird in den letzten Jahren immer geringer, wobei die Wirkung der Schmerzmittel gleich bleibt. Anders gesagt: Die Schmerzpatienten sprechen immer besser auf Placebobehandlungen an. Ein Team um Jeffrey Mogil der McGill University in Montreal hat hierfür mehr als 80 klinische Studien durchforstet, die zwischen 1990 und 2013 herauskamen und in denen Wirkstoffe gegen neuropathischen Schmerz getestet wurden (Pain 156: 2616-26).

 Warum in neueren Studien stärkere Placeboeffekte auftreten, und wieso das nur in den USA der Fall ist, darüber können die Autoren nur spekulieren. So stellen sie fest, dass Arbeiten aus jüngeren Jahren tendenziell mit mehr Probanden arbeiten, und dass die Teilnehmer über immer längere Zeiträume beobachtet werden. Wirklich schlüssige Erklärungen hierzu fehlen aber noch, räumt Jeffrey Mogil per E-Mail ein. „Wir wissen es nicht“, so sein Resümee. Weiter schreibt er: „Dass Placeboantworten über die Jahre stärker werden, ist auch schon für Studien zu Antidepressiva und Antipsychotika gezeigt worden.“

Wie immer man diese Ergebnisse nun interpretiert: Man darf ziemlich sicher davon ausgehen, dass viele Patienten pharmakologische Präparate erhalten, die kaum spezifische Effekte auf die Symptomatik ausüben. Viel wichtiger als die Rezeptur scheinen in diesen Fällen die Erwartungshaltung des Patienten und der weiße Kittel des Arztes zu sein. Mit welchem Recht also wettern wir da gegen Homöopathen? Man könnte sogar zugunsten der Alternativheiler argumentieren, dass deren Pillchen zumindest keine Nebenwirkungen haben und weder Leber noch Niere belasten.

Ein Blick in den Beipackzettel

„Ich sehe nicht wirklich, dass man hier mit zweierlei Maß misst“, widerspricht Ulrich Berger und fügt hinzu: „Sobald in großen Studien festgestellt wird, dass ein Medikament keine spezifische Wirkung hat, glaube ich nicht, dass viele Forscher die Meinung vertreten, man sollte das trotzdem weiter einsetzen“ Berger ist Mathematiker und leitet in Wien das Institut für Analytische Volkswirtschaftslehre. Er dürfte aber auch manchen Laborjournal-Lesern bekannt sein. Als Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) engagiert er sich in der Skeptikerbewegung (als Vorsitzender des österreichischen Ablegers „Gesellschaft für kritisches Denken“) und konfrontiert gern mal Ski-Fans mit den Naturgesetzen oder betrachtet die Masernimpfung aus spieltheoretischer Sicht.

Während für viele alternativmedizinische Verfahren jeder Anhaltspunkt für eine spezifische Wirksamkeit fehle, müsse man die aktuell diskutierten Studien zum Placeboeffekt bei Therapien mit pharmakologischen Präparaten differenziert betrachten. „Dieser Placebovergleich mit Paracetamol, der durch die Medien ging, bezieht sich meines Wissens nur auf Rückenschmerzen“, nennt er ein Beispiel. Und wer in den Beipackzettel schaut, sieht tatsächlich, dass der Wirkstoff ohnehin nur gegen leichte bis mittelschwere Schmerzen oder als fiebersenkende Maßnahme indiziert ist.

Bei den oben erwähnten Antidepressiva ist zwar mittlerweile umstritten, wie sinnvoll deren Einsatz zur Behandlung leichter Depressionen ist, „aber bei starken Depressionen gibt es einen Effekt“, stellt Berger klar. Das hätten auch Kirsch und Kollegen in ihrer Metaanalyse bestätigt.

Somit ist es in der Medizin zumindest gang und gäbe, die Effekte von Medikamenten immer wieder in Studien auf die Probe zu stellen und Grenzen der Wirksamkeit abzustecken. Berger räumt ein, dass auch Erwartungshaltungen des Patienten und die Kommunikation mit dem Arzt für den Behandlungserfolg bedeutsam sind und in einigen Fällen stärker zu Buche schlagen als der eigentliche Wirkstoff. „Aber von der alternativmedizinischen Seite wird das ja selten in Erwägung gezogen; die bestehen darauf, dass ihre Effekte gar keine Placeboeffekte sind, sondern auf spezifischen Wirkung beruhen.“

Lügendilemma

Doch was spricht dagegen, den Placeboeffekt ganz gezielt einzusetzen? Solange er dem Patienten keine notwendige Behandlung vorenthält, tut der Arzt doch eigentlich ein gutes Werk. Er lindert Schmerzen oder andere Beschwerden, ohne dass pharmakologische Nebenwirkungen zu erwarten sind. Nun ist die Placeboantwort des Patienten auch von seiner Erwatungshaltung abhängig. Oft profitiert der Patient mehr von der Scheinbehandlung, wenn er glaubt, ein pharmakologisch wirksames Präparat einzunehmen. Das bedeutet aber letztlich, dass der Arzt seiner Aufklärungspflicht nicht nachkommt. Ist nun das Wohlbefinden des Patienten oder die Transparenz der Therapie wichtiger?

 „Der britische Arzt und Skeptiker David Colquhoun spricht vom lying dilemma“, bringt es Berger auf den Punkt. Berger hat durchaus Verständnis dafür, dass ein Arzt im Einzelfall die Entscheidung trifft, den Patienten nicht vollständig über ein Scheinpräparat aufzuklären. In vielen Situationen ist es auch nicht notwendig, gleich zu lügen. Ich bekomme sehr viele positive Rückmeldungen von Leuten, die diese Globuli einnehmen, könnte ein solcher Ausweg aus dem Dilemma sein.

 Mit Sorge sieht Berger aber, wenn auch die Ärzte und Therapeuten selbst an die spezifische Wirksamkeit eines Placebos glauben, und wenn darum ein ganzer Industriezweig samt Lehrstrukturen entsteht. „Wenn ich mir so eine typische Homöopathieausbildung anschaue“, so Berger, „da werden dann Ärzte belogen, damit sie später die Patienten effektiv und überzeugt belügen können – tragischerweise sogar an Unis“ (siehe auch Laborjournal 10/2015).

Mechanismen des Placeboeffekts besser verstehen

Was man immerhin von den „Alternativmedizinern“ lernen kann: Über die Therapeut-Patient-Beziehung lassen sich eindrucksvolle Effekte erzielen, die sich sicher auch im klinischen Alltag nutzen lassen. „Das ist etwas, was die Skeptiker schon seit Jahren predigen“, meint auch Berger, „aber in der Praxis scheitert das natürlich am Geld.“ Auch hier könnte man zugunsten alternativer Verfahren argumentieren, bei denen der Heiler zuhört und auf den Patienten eingeht – ähnlich wie ein Psychotherapeut. „Man kann natürlich sagen, wenn die erste Anamnese in der Homöopathie nur eine niederschwellige Form der Psychotherapie ist, dann sollten Krankenkassen die auch erstatten“, so Berger, „aber innerhalb der Psychotherapie gibt es ja auch randomisierte kontrollierte Studien“.

Die Sache mit der Erwartungshaltung ist übrigens nicht so trivial, wie man meinen könnte. Dass der Placeboeffekt nicht allein darauf fußt, dass der Patient belogen werden muss, zeigen nämlich Studien zur offenen Placebogabe: In einigen Untersuchungen wurden Probanden darüber aufgeklärt, dass sie kein wirksames Präparat erhalten, fühlten sich aber dennoch besser.

Eindrucksvoll auch ein Paper von Sarah Lidstone et al. Die hatten Parkinsonpatienten erklärt, dass sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 25, 50, 75 oder 100 Prozent ein wirksames Medikament erhielten; sie alle bekamen aber bloß Placebos. Nun sollte man erwarten, dass die 100-Prozentgruppe am besten auf die Behandlung anspringt. Tatsächlich aber zeigt die PET-Bildgebung bei den Probanden die höchste Dopaminausschüttung, denen man nur mit 75-prozentiger Wahrscheinlichkeit das echte Medikament in Aussicht gestellt hatte (Arch Gen Psychiatry 67: 857-65).

Wünschenswert wäre daher, Mechanismen rund um den Placeboeffekt besser zu verstehen, die man auch am aufgeklärten Patienten anwenden kann. Wo Erwartungshaltungen relevant sind, muss jeder Arzt im Einzelfall selber einen verantwortungsvollen Weg zwischen Aufklärungspflicht und dem Wohl des Patienten finden. Verantwortungsvoll handeln bedeutet aber auch, dass er dem Patienten nicht im Sinne eines juristischen Disclaimers alle Nebenwirkungen unkommentiert um die Ohren haut, nur um sich rechtlich abzusichern. Hier gehört es zum ärztlichen Handwerk, dass der informierte Patient trotzdem mit einem guten Gefühl nach Hause geht. Gegebenenfalls auch mit einer Prise Placeboeffekt.

 

Mario Rembold

 



Letzte Änderungen: 27.07.2016