Editorial

Meine Studie, meine Daten, meine Patienten

(6.8.16) Manche Forscher würden Daten aus klinischen Studien gerne möglichst lange wegschließen. Das ist gut für Karriere und Publikations­chancen, aber schlecht für den medizinischen Fortschritt.

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In der Genomik ist es eine Selbstverständlichkeit: Spätestens wenn ein "Genom-Paper" mit Statistiken und allerlei Analysen erscheint, müssen auch die Sequenzdaten selbst zugänglich sein. Andere Forscher können damit machen, was sie wollen, und ihre Ergebnisse in eigenen Arbeiten verbreiten – ohne die Produzenten der Genomsequenz zu Koautoren machen zu müssen. Und ohne die Autoren des Genom-Papers zu fragen, ob sie das Folgeprojekt gutheißen. Ein wissenschaftlich korrektes Zitat ist in der Regel ausreichend.

Denn was wären bunte Diagramme und summarische Tabellen wert, wenn die Ergebnisse nicht überprüfbar wären, wenn andere nicht darauf aufbauen könnten?

Der Aufschwung der Genomik hängt vielleicht nicht nur mit der Entwicklung immer schnellerer Sequenziermaschinen zusammen, sondern auch mit der relativ offenen Kultur des Teilens, die dort von Beginn an herrschte – praktisch realisiert beispielsweise in Form der Sequenzdatenbanken von NCBI.

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Wo findet man Studien-Daten?

Eine vergleichbare, zentrale Anlaufstation für alle Daten aus klinischen Studien gibt es dagegen nicht. Meist sind die Trial-Daten überhaupt nicht öffentlich zugänglich, man muss die Autoren in der Regel anschreiben und auf ein Einsehen hoffen (bzw. auf entsprechende Regeln der Journals pochen).

Klinische Forscher leben in Bezug auf Open Data offenbar noch auf einem anderen Planeten. Keine Frage, Erhebungen aus klinischen Studien sind besonders schutzwürdig; dass intime Informationen über einzelne, identifizierbare Patienten per Google auffindbar sind, muss unbedingt verhindert werden. Mal eben alle Rohdaten einer klinischen Studie ins Netz zu stellen ist keine gute Idee.

Aber davon mal abgesehen: Wem gehören die Daten aus klinischen Studien? Sollte es nicht selbstverständlich sein, dass gründlich anonymisierte Daten frei zugänglich sind, sobald das zugehörige Paper erschienen ist – so wie das z.B. die Genomiker praktizieren? Wie sonst könnten andere Forscher die publizierten Ergebnisse nachvollziehen, etwaige Ungenauigkeiten oder gar fundamentale Fehler aufspüren? Und ist es nicht eine Verschwendung von Ressourcen, wenn Wissenschaftler mit ähnlichen Fragestellungen keinen Zugang zu schon existierenden Daten haben, und unnötigerweise Patienten für eine eigene Studie rekrutieren müssen – mit allen Risiken für die Studienteilnehmer?

Sollte man aus all dem nicht gar eine ethische Verpflichtung ableiten, alle Studiendaten zügig zu veröffentlichen, zur Maximierung des Erkenntnisgewinns und des medizinischen Fortschritts?

Spät dran

Die Kliniker sind spät dran, sich diese Fragen zu stellen und eine Open-Data-Kultur zu etablieren. Und viele haben erkennbar wenig Lust, auf den Zug aufzusteigen. Das International Committee of Medical Journal Editors (ICMJE) hat vor einiger Zeit einen recht moderaten Vorschlag gemacht, der den Bedenkenträgern schon entgegenkommt: Die Autoren klinischer Studien sollen demnach spätestens ein halbes Jahr nach Erscheinen des zugehörigen Papers die (anonymisierten) Daten öffentlich machen.

Fast 300 klinischen Forschern geht das aber viel zu weit. Gemeinsam haben sie nun ein Editorial im New England Journal of Medicine publiziert. Wenn es nach den Unterzeichnern geht, sollen Autoren nach der Publikation einer Studie noch mehr als zwei Jahre, im Einzelfall bis zu fünf Jahre, die volle Kontrolle über ihre Daten behalten. Und auch nach Ablauf dieser Sperrfrist sollen sie nicht frei verfügbar sein; vielmehr soll ein Komitee darüber befinden, wer die Daten zu welchem Zweck sehen und nutzen darf.

Und mit welcher Begründung verweigern sich die 300 Mediziner einer offeneren Lösung? Nicht irgendeinen wissenschaftlichen Nutzen oder den Schutz der Patientendaten stellen die Unterzeichner in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Sondern: die Forscher-Karrieren.

Die Paper-legende Wollmilchsau

Die Logik geht etwa so: Klinische Studien sind aufwendig, und so eine mühsam herangezogene, Paper-legende Wollmilchsau muss im Stall eingesperrt werden, bis sie gründlich gemolken und geschoren ist – bis sie also eine ganze Latte an Publikationen abgeworfen hat. Dass Fremde ungefragt bei der Auswertung mitmischen oder gar die publizierten Resultate re-analysieren, erscheint aus dieser Karriere-zentrischen Sicht als "unfair".

Dass durch frühes Offenlegen von Studiendaten Fehler rasch gefunden und Medikamente schneller entwickelt werden können, somit ganz konkret zukünftigen Patienten geholfen werden kann, spielt in den Argumenten der zumeist medizinisch ausgebildeten Unterzeichner offenbar keine Rolle.

Ähnlich argumentierten Ende Januar schon zwei andere Kliniker, Dan Longo und Jeffrey Drazen, ebenfalls im NEJM: Es gebe die Befürchtung, dass "Research Parasites" das System übernähmen. Gemeint waren Forscher, die nicht selbst Daten erzeugen, sondern existierende Resultate auswerten. Anderswo heißen solche Leute z.B. "Bioinformatiker" und sind gefragte und geschätzte Kollaborationspartner.

Nun wäre es aber zu einfach, auf die Mediziner einzuhacken. Denn der Unwille, große Datensätze frühzeitig offenzulegen, ist auch unter Biologen noch verbreitet. Das Problem ist vielleicht eher der übermäßige Wert, der dem traditionellen Paper beigemessen wird. Und die mangelnde Anerkennung für wissenschaftliche Leistungen, die sich nicht in Publikationen messen lassen.

 

Hans Zauner

 

 



Letzte Änderungen: 12.09.2016