Editorial

Die unbewusste Zähmung

(23.04.2018) Allein durch die Nähe zum Menschen verändern Mäuse ihr Aussehen und werden zahmer. Forscher aus Zürich und Cambridge zeigten dieses biologische Phänomen an verwilderten Hausmäusen.
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Schon vor 15.000 Jahren begann der Mensch, Tiere und Pflanzen zum eigenen Nutzen zu halten. Über Generationen hinweg wählte er immer die zahmsten Tiere aus und züchtete diese. Im Zuge der Domestikation wurden so aus Wildtieren Haus- und Nutztiere gemacht.

Doch nicht nur durch die zutraulichere Wesensart unterscheiden sich Haustiere von ihren wilden Verwandten – auch äußerlich gibt es Unterschiede. Domestizierte Tiere zeigen ganz bestimmte Merkmale, die bei ihren wilden Verwandten normalerweise nicht zu sehen sind: weiße Flecken im Fell, kürzere Schnauzen, schlappe Ohren, kleinere Zähne und kleinere Gehirne. Diese typische äußerliche Veränderung, die bei nahezu allen Haustieren auftritt, nennt man Domestikationssyndrom. Dass die Selektion auf Zahmheit mit Veränderungen im Aussehen einhergeht, bewies der Genetiker Dmitry Belyaev schon 1959 als er in Sibirien wilde Füchse zähmte und züchtete.

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Liegt‘s an den Stammzellen?

Wie die gleichzeitige Veränderung von Verhalten und Aussehen der Tiere genau zusammenhängt, ist allerdings noch nicht ganz klar. Eine mögliche Erklärung findet man in der frühen Embryonalentwicklung der Tiere. Es gibt eine kleine Gruppe von Stammzellen – die Zellen der Neuralleiste –, die an der Bildung von Ohrknorpel, Zähnen, Haut­pigmentzellen und der Adrenalin-produzierenden Nebenniere beteiligt sind. Die Wesensart und das Aussehen von gezähmten Tieren könnte daher auf passivere Zellen der Neuralleiste zurückgeführt werden.

Mit der Domestikation einer verwilderten Hausmaus-Population beschäftigte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern der Universitäten Zürich und Cambridge unter der Leitung von Anna Lindholm, Gruppenleiterin am Institut für Evolutionsbiologie und Umwelt­wissenschaften der Universität Zürich. Die untersuchten Mäuse wurden vor 15 Jahren von Lindholm und ihrem Team gefangen und in einer Scheune ausgesetzt. Dort wurden sie regelmäßig mit Wasser und Nahrung versorgt – den Mäusen gefiel es, sie blieben und pflanzten sich fort. Geplant war ein Langzeitexperiment, um das Verhalten, die Ökologie und die Genetik dieser Mäuse zu untersuchen. „Das Ganze war aber nicht als Domestikationsexperiment geplant“, berichtet die Erstautorin der Studie Madeleine Geiger.

Hellauf begeistert

Nach ein paar Jahren entdeckten Lindholm und ihr Team weiße Flecken im Fell der Mäuse und begannen diese zu dokumentieren. Erst kürzlich beschlossen die Forscher, die weißen Flecken und andere Domestikationsmerkmale genauer unter die Lupe zu nehmen. „Als ich zum ersten Mal von diesen Mäusen mit den weißen Flecken und kürzeren Schnauzen erfahren habe und die Gelegenheit bekam sie zu erforschen, war ich sofort hellauf begeistert“, schwärmt Geiger. „Der Datensatz ist einmalig und eine Ergänzung zum berühmten Domestikations-Programm mit zahmen Füchsen in Sibirien.“

Die gesammelten Daten der Forscher gehen nämlich noch einen Schritt weiter. Denn die Mäuse in der Scheune wurden nicht gezielt auf Zahmheit selektioniert und gezüchtet, sie hatten lediglich regelmäßigen Kontakt zu Menschen. Allein durch den nahen Menschenkontakt entwickelten sie die typischen Domestikationsmerkmale – weiße Flecken im braunen Fell und kürzere Schnauzen. Die Selektion auf Zahmheit passierte ganz nebenbei und unbeabsichtigt. Diesen passiven Selektionsprozess bezeichnen die Forscher als „Selbstdomestikation“. Geiger erklärt: „Wegen des häufigen Menschenkontaktes verlassen ängstliche Tiere eher die Umgebung des Menschen, in diesem Fall die Scheune. Zahme Individuen bleiben, da ihnen der Kontakt zum Menschen weniger ausmacht. Da Zahmheit wahrscheinlich an die Nachkommen vererbt wird, wird die gesamte Population in der Scheune mit der Zeit im Durchschnitt zahmer.“

Zahme Wölfe

Auf diese Weise ließe sich auch erklären, wie Vorfahren von Haustieren – zum Beispiel Wölfe und Wildschweine – vor tausenden von Jahren begannen, in der Nähe von Menschen und ihren Nahrungsabfällen zu leben, immer zahmer wurden und ebenfalls weiße Flecken und andere Domestikationsmerkmale entwickelten.

Über ihre Zukunftspläne verrät Geiger: „Die meisten domestizierten Tiere haben eine reduzierte Gehirngröße im Vergleich zu ihren wilden Verwandten. Es wäre also spannend zu untersuchen, ob auch bei den Mäusen in der Scheune das Gehirn kleiner geworden ist.“

Eva Glink



Letzte Änderungen: 23.04.2018