Editorial

Degenerative Scharnieritis

(30.10.2018) Eine hochansteckende Seuche greift im Labor um sich. Unsere (andere) TA handelt entschlossen und entdeckt nebenbei auch die Vorteile kaputter Laborgeräte.
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Der Montag begann mit einer ebenso Unheil verheißenden wie seltsamen Frage: „Wusstest du, dass uns eine Tür fehlt?“

Nun habe ich mich, im Gegensatz zu der fragenden Masterstudentin, daran gewöhnt, dass in unserem Labor manchmal Gegenstände unangekündigt an andere Orte verbracht werden – aber ganze Türen? Die Dinger werden selten andernorts gebraucht oder ausgeborgt, laufen noch viel seltener davon und entwickeln auch keine Eigeninitiative oder Wanderbereitschaft. Zudem interessieren sich die Leute von der Haustechnik in letzter Zeit ausschließlich für unsere Brandschutzklappen, dürften also auch keine Tür zur Überarbeitung mitgenommen haben.

„Nein, welche denn?“, hakte ich nach.

„Im Chemikalienraum. Eine Tür vom Chemikalienschrank.“

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„Die hatte ein kaputtes Scharnier und muss ausgetauscht werden“, klärte mich meine TA-Kollegin wenig später auf. Damit war immerhin das erste Türproblem dieser Woche gelöst. Es sollte nicht unser einziges bleiben.

Am nächsten Morgen erschien eine Doktorandin bei mir im Labor. „Weißt du, dass die Klappe von der Eismaschine angebrochen ist?“

Ich schaute sie schweigend an.

„Das linke Scharnier ist kaputt“, setzte sie hinzu.

„Ich kümmere mich gleich darum“, beruhigte ich sie.

Woher kommt bloß diese plötzliche Häufung von defekten Scharnieren? Daran, dass es die meist genutzten Türen erwischt, sprich am Verschleiß, kann es nicht liegen. Da muss eine Krankheit am Werk sein. Eine hochansteckende Seuche. Bestimmt ein Ausbruch von degenerativer Scharnieritis. Aber wie kann die sich so schnell verbreiten? Wie funktioniert die Übertragung?

Da die betroffenen Türen und Scharniere sich selten untereinander auf "Körperkontakt" annähern, überträgt sich die Infektion entweder durch die Luft – oder wir, meine Kollegen und ich, sind die Überträger. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass sich die beiden Gegenstände in unterschiedlichen Räumen befinden.

Wie auch immer , wir mussten handeln! Wir mussten die Ausbreitung der Seuche stoppen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die tägliche Arbeit halbwegs ungehindert fortgesetzt werden konnte. Die angebrochene Eismaschinenklappe kurierten wir kurz und bündig mit Duct tape – diesem festen silbernen Klebeband, mit dem man vom Atomreaktor bis zum Space Shuttle alles reparieren kann. Da wird es für die Klappe unserer Eismaschine wohl auch reichen – zumindest so lange, bis wir Zeit für eine richtige Reparatur haben.

Diese provisorische Lösung erwies sich als goldrichtig, denn die degenerative Scharnieritis grassierte mit ungebrochener Macht weiter.

Am nächsten Tag erwischte es eines der Scharniere an der Tür des -80°C-Schranks. Einer unserer Postdocs entdeckte den Riss, berichtete meiner TA-Kollegin davon, die ihrerseits zu mir kam und mir die dritte „Wusstest du“-Frage innerhalb einer Woche stellte. Da wir uns beim -80°C-Schrank, der RNA-Proben und aufwändig gewonnene Pflanzenproben enthält, nicht auf eine provisorische Lösung verlassen wollten, orderte ich umgehend online ein Ersatzscharnier. Dann begann ein banges Warten. Was würde zuerst den Durchbruch schaffen? Das Ersatzteil oder das angeknackste Scharnier?

Vor ein paar Jahren ließ sich die Tür unseres anderen -80°C-Schranks selbst nach gründlicher Enteisung nur schwer schließen. Wenn ich mich recht erinnere, hing das irgendwie mit der Dichtung zusammen. Der zuständige Vertreter sprach damals folgenden Satz: „Dann sollten Sie die Tür besser nicht so oft aufmachen.“ Ob er das einem Großkunden auch vorschlagen würde? Das gäbe ein hübsches Schild im Supermarkt: Entnahme von Tiefkühlware täglich zwischen 10:00 und 10:01 Uhr sowie zwischen 14:00 und 14:01 Uhr.

Vielleicht liegt darin auch die Lösung unseres Problems. Wenn wir die -80°C-Schranktür nicht mehr öffnen, kann die Hälfte der Arbeitsgruppe zwar nicht mehr arbeiten, aber dafür hält das Scharnier bestimmt bis zum Eintreffen des Ersatzteils durch. Am besten erstellen wir einen Proben-Entnahmeplan. Ungefähr so: Entnahme von RNA-Proben und Blattmaterial täglich von 9:00 bis 9:01 Uhr, Entnahme kompetenter Zellen täglich von 14:30 bis 14:31 Uhr. Wird bestimmt interessant, das meinen Kollegen zu erklären.

Das Eintreffen des neuen Scharniers zwei Tage später machte unserer Unruhe ein Ende. Für den Austausch mussten wir den Schrank abtauen, sprich komplett ausräumen. Ein logistisches Großunternehmen, und da Reserve-Stauraum bei -80°C ein knappes Gut ist, haben wir vorher gründlich aussortiert.

Insofern hatte die degenerative Scharnieritis auch ihr Gutes. Soviel freien Platz hatten wir lange nicht mehr im -80°C-Schrank.

Maike Ruprecht



Letzte Änderungen: 30.10.2018