Editorial

Intrazellulärer Irrläufer

(12.11.2018) Durch einen einfachen Aminosäure-Austausch in intrinsisch ungeordneten Protein-Regionen entsteht ‘versehentlich’ ein neues Bindemotiv mit fatalen Folgen.
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Die meisten Erbkrankheiten entstehen dadurch, dass eine Mutation eine Struktur­veränderung in einem Protein auslöst. Da die Struktur eng mit der Funktion zusammen hängt, bedeutet dies häufig den Funktions­verlust des entsprechenden Proteins. Mehr als ein Fünftel aller bekannten Mutationen, die beim Menschen Krankheiten verur­sachen, führen allerdings zu Verän­derungen in Protein-Abschnitten, die keine definierte Tertiärstruktur aufweisen.

Solche intrinsisch ungeordneten Regionen (IDR=intrinsically disordered regions) sind überraschenderweise gar nicht so selten im Reich der Proteine: Etwa 30 Prozent der eukaryotischen Proteine liegen unter physiologischen Bedingungen unstrukturiert vor oder besitzen große unstrukturierte Bereiche (siehe auch “Tanzende Bindungspartner” aus Laborjournal 5/18). „Lange hat man sich in der Biologie hauptsächlich auf strukturierte Regionen von Proteinen konzentriert“, erläutert Matthias Selbach, Gruppenleiter „Proteom-Dynamik“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin. „Das ändert sich aber gerade: Heute weiß man, dass viele IDRs wichtig für die Funktion von Proteinen sind. Sie vermitteln beispielsweise Protein-Protein-Interaktionen oder werden posttranslational modifiziert. Auf diese Weise sind sie für viele biologische Prozesse wichtig.“

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Kurze Mutation

Gerade Sequenz-Veränderungen in den Kontaktflächen zwischen Proteinen sind für zahlreiche Krankheiten verantwortlich. In einer ungeordneten Region werden diese aber kaum die Struktur beeinflussen. Allerdings finden sich in den IDRs häufig für die Funktion wichtige, kurze lineare Sequenzmotive (short linear motifs=SLiMs), die durch Mutationen zerstört oder neu gebildet werden können. Und in der Tat hat man “viele Mutationen in IDRs identifiziert, die neurologische Erkrankungen auslösen”, sagt Selbach. Sein Team deckte einen solchen Mechanismus kürzlich auf.

Mit Hilfe von Pulldown-Experimenten überprüfte Selbachs Gruppe, wie sich durch bestimmte Mutationen die Interaktionen zwischen IDRs und anderen Proteinen veränderten. Ausgewählt wurden hierfür 128 IDRs, von denen bekannt war, dass sie an der Entstehung einer neurolo­gischen Erkrankung beteiligt sind. Zusammen mit ihren nicht veränderten Gegenstücken synthetisierten Selbach und Co. diese als 15-Aminosäure-lange Peptide und fixierten sie auf einer Cellulose-Membran. Aus verschiedenen Zellextrakten fischte das Team anschließend über hunderttausend Bindungspartner heraus, von denen 618 spezifische Interaktionen eingingen. „Es ist typischerweise so, dass man in solchen Pulldown-Experimenten hunderte bis tausende Proteine identifiziert”, so Selbach. “Die allermeisten sind aber in der Regel unspezifisch. Hier ist quantitative Proteomik der Schlüssel zum Erfolg: Wir haben quantifiziert, wie viel vom jeweiligen Protein wir mit dem jeweiligen Peptid herausfischen, und haben das mit den anderen Peptiden verglichen. So konnten wir die Interaktionen auswählen, die wirklich spezifisch sind“.

Fast 200 Unterschiede

Besonders interessant waren natürlich die Bindungspartner, die zwischen dem Wildtyp und dem veränderten Peptid einen Unterschied machten. Insgesamt waren dies 180; 111 Wechselwirkungen gingen durch die krankheits­verursachenden Mutationen verloren und 69 kamen neu hinzu. Einige schienen dabei die Bindung von Spleißfaktoren zu verändern oder ein Lokalisationssignal für den Zellkern zu zerstören, während andere mit der Bildung von Clathrin-bedeckten Vesikeln in Verbindungen standen.

Letzteres war bei drei Membranproteinen – dem Glucosetransporter GLUT1, dem Calciumkanal CACNA1H und dem Inositol-1,-4,-5-Triphosphat-Rezeptor – der Fall. Sie alle wiesen in ihrem cytoplasmatischen Teil einen Aminosäure-Austausch von Prolin zu Leucin auf, wodurch ein sogenanntes Dileucin-Motiv entstand. Dieses vermittelt über die Bindung von Adapter-Proteinen die Bindung an das Mantelprotein Clathrin. „Die Bindung von Adapter-Proteinen an Dileucin-Motive ist für zahlreiche zelluläre Sortierprozesse wichtig“, erklärt Selbach. „Neu gezeigt haben wir, dass solche Dileucin-Motive ‘versehentlich’ durch Mutationen entstehen und auf diese Weise Krankheiten auslösen.“

Richtige Aktivität, falscher Ort

Clathrin ist an der Bildung von endozytotischen Membran­vesikeln beteiligt. Folglich könnte die Neubildung eines Bindemotivs dazu führen, dass eigentlich membranständige Proteine in Vesikel verpackt und ins Zellinnere verschickt werden. Anhand der P485L-Mutation im Glucosetransporter GLUT1 konnte Selbachs Team diese Theorie jetzt tatsächlich bestä­tigen. GLUT1 befindet sich in der Cytoplasma-Membran von Endothelzellen der Blut-Hirn-Schranke sowie in Astrozyten und ermöglicht so die Aufnahme von Glucose aus dem Blut ins Gehirn. Ein Mangel an funktionellem Transporter führt deshalb zu einer Glucose-Unterversorgung des Gehirns, die sich in Epilepsien und intellektuellen Einschränkungen äußern kann.

Statt in der Cytoplasma-Membran befand sich die mutierte Variante des Transporters im Zellinnern, assoziiert mit verschiedenen Proteinen, die am intrazellulären Transport beteiligt sind wie etwa die Adapterproteine AP-1, -2 und -3. „Verschiedene Adapterproteine vermitteln unterschiedliche zelluläre Transportprozesse. So ist AP-2 für die Endozytose von der Plasmamembran zuständig“, führt Selbach aus.

In der Tat band die veränderte IDR in vitro an AP-1 und AP-2, und ein Ausschalten von AP-2 durch RNA-Interferenz erhöhte die Menge an funktionellem GLUT1 in der Cytoplasma-Membran. Diese Ergebnisse konnten an Bindege­webszellen von Patienten bestätigt werden, die heterozygot für die entsprechende Mutation waren. Da nur ein Allel betroffen war, lag GLUT1 sowohl in der Cytoplasma-Membran als auch intrazellulär vor. „Homozygote GLUT1-Knock-out-Mäuse sind nicht lebensfähig, was wir in unserem Mausmodell auch für die P485L-Mutation beobachtet haben“, so der Wissenschaftler. „Vermutlich sind also auch Menschen, die homozygot für P485L sind, nicht lebensfähig.“

Das gleiche Muster

Eine Datenbank-Analyse förderte weitere elf Dileucin-Mutationen in acht Proteinen zutage. „Wir haben krankheits­auslösende Dileucin-Mutationen in ganz verschiedenen Proteinen gefunden, etwa eine im Chloridkanal CFTR, die Mukoviszidose verursacht. All diese Mutationen waren schon als krankheits­auslösend bekannt. Neu ist das gemeinsame ‘Muster’: Alle Mutationen erzeugen ein Dileucin-Motiv, welches vermutlich zur falschen zellulären Sortierung des jeweils betroffenen Proteins führt. Man könnte die entspre­chenden Krankheiten daher als ‘Dileucinopathien’ bezeichnen“, fasst Selbach zusammen.

Da der Transporter trotz Mutation funktionsfähig bleibt, scheint eine Behandlung entsprechender Krankheiten möglich: „Man könnte die zellulären Sortierprozesse inhibieren, die die verschiedenen Adapterproteine vermitteln. Chlorpromazin ist ein zugelassenes Neuroleptikum, das in Zellkultur-Experimenten dazu verwendet wird, die Clathrin-vermittelte Endozytose zu inhibieren. Allerdings ist die dafür notwendige Konzentration viel höher als die Konzentration, die man normalerweise im Blut von Patienten erreicht. Außerdem sind zelluläre Sortierprozesse natürlich wichtig für viele Zellen im Körper. Man müsste also irgendwie versuchen, mit der Therapie nur die jeweiligen Zielzellen zu treffen.“ Sollte dies gelingen, lassen sich die intrazellulären Irrläufer vielleicht auf den richtigen Weg zurückführen.

Larissa Tetsch

Meyer K. et al. (2018): Mutations in disordered regions can cause disease by creating dileucine motifs. Current Biology, 175: 239



Letzte Änderungen: 12.11.2018