Editorial

Schweine, wollt ihr ewig leben?

(04.06.2019) Das Nature-Paper um vermeintlich wiederbelebte Schweinehirne offenbart gar nichts. Höchstens einige gravierende Mängel des Wissenschaftssystems.
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Aus aktuellem Anlass widmet sich der Narr diesmal den letzten Dingen. Am 17. April titelte Nature anlässlich eines Artikels, bei dem es um wiederbelebte Schweinehirne ging: „Turning back time!“ Nicht nur die Grundfeste der Biologie, gar der Physik schienen damit aus den Fugen geraten.

Wenn schon Nature den Verstand verliert, gibt‘s im Boulevard natürlich kein Halten mehr. Die BILD wusste, obzwar in dem Artikel gar kein Alzheimer vorkommt: „Durchbruch in der Alzheimer-Forschung: US-Forscher reaktivieren totes Schweine-Hirn.“ Der Schweizer Rundfunk, sonst eher konservativ in der Berichterstattung, dichtete: „Frankenschwein lebt!“ Wegen der Nähe zum Osterfest sprach die Süddeutsche davon, dass Nature ein eigenes „Auferstehungsfest“ feiere.

Weltweit schallte also aus Zeitungen, Fernsehen und Internet die frohe Botschaft, dass es Wissenschaftlern gelungen war, Schweinehirne wieder lebendig werden zu lassen. Der Clou dabei: Man hatte die Hirne vom Schlacht­hof geholt. Stimmungsmäßig oszillierte die Berichterstattung zwischen Grusel und Ekstase, denn damit stand die Frage im Raum: Ist der Tod umkehrbar?

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Die Studie von Forschern der US-amerikanischen Yale-Universität hätte natürlich nicht nur für Metzger und Intensivmediziner große Bedeutung: Man denke nur an die ethischen Implikationen, und das mitten in der Organspende-Diskussion. Wenn man Schweinehirne Stunden nach dem Tod wiederbeleben kann, können wir dann überhaupt noch von Hirntod sprechen? Und wenn man sich in dieser Frage nicht sicher sein kann, nach welchen Kriterien dürfen dann überhaupt noch Organe zur Transplantation entnommen werden? Deshalb hatte Nature dem Artikel gleich zwei mehrseitige Kommentare von prominenten Ethikern zur Seite gestellt und damit Öl ins selbstgelegte Feuer gegossen.

Bei so viel Aufregung empfiehlt sich das Motto: Außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Evidenz! Fragen wir also, was die Wissenschaftler da in Nature berichtet hatten, und was eigentlich davon zu halten ist.

Folgendes war geschehen: Zvonimir Vrselja und seine Kollegen hatten Schweinehirne vom Schlachthof vier Stunden nach Tötung der Tiere an eine selbstgebastelte Maschine angeschlossen. Diese Maschine, effektheischend BrainEx genannt, durchströmte das Hirngewebe für maximal sechs Stunden mit einer Lösung, die einen künstlichen Sauer­stoffträger und eine Reihe von zytoprotektiven Substanzen enthielt. In den so behandelten Hirnen konnten die Forscher die Erhaltung einiger zellulärer Strukturen samt rudimentären Zellfunktionen beobachten. Dies bis maximal zehn Stunden post mortem und im Unterschied zu nicht an BrainEx angeschlossene Gehirne. Zum Beispiel reagierten die Hirngefäße auf applizierte vasoaktive Substanzen; Gliazellen ließen sich mit bakteriellen Zellwandbestandteilen stimulieren; die strukturelle Morphologie von Neuronen, beispielsweise im Hippocampus, war gut erhalten; Ableitungen von einzelnen Neuronen zeigten relativ normale elektrophysiologische Eigenschaften. Synchronisierte Netzwerkaktivität jedoch war nicht vorhanden, denn ein kortikales Elektroenzephalogramm (EEG) ließ sich nicht ableiten.

Das alles ist durchaus bemerkenswert, zudem war es methodisch recht sauber gemacht und präsentiert. Trotzdem hat die Arbeit zwei entscheidende Mängel: Zum einen beschreibt sie nichts grundsätzlich Neues. Und die Behauptung, dass hier ein relevanter Schritt in Richtung Wiederherstellung von Hirnfunktion nach längerer Unterbrechung der Hirndurchblutung getan wurde, ist nicht nur übertrieben, sondern schlichtweg falsch.

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Ulrich Dirnagl, Credit: BIH/T. Rafalzyk

Warum ist es nichts Neues, wenn Gehirne nach Unterbrechung der Blutzufuhr und erloschenem EEG wieder Funktionszeichen entwickeln? Schon 1970 hatte der Kölner Neurologe Konstantin Alexander Hossmann gezeigt, dass Katzenhirne nach einer Stunde komplettem Durchblutungsstopp wieder ein EEG entwickeln und evozierte Potenziale abgeleitet werden können. Die Arbeit, damals in Science publiziert, stimulierte eine ganze Generation von Neuro­wissenschaftlern, sich auf die Suche nach neuroprotektiven Substanzen zu machen. Bis dato war man davon ausgegangen, dass Hirngewebe unmittelbar mit Durchblutungsstopp praktisch dem Untergang geweiht und jede nachfolgende therapeutische Maßnahme somit zwecklos sei. Frecherweise erwähnen Vrselja et al. Hossmanns Arbeit sogar – allerdings en passant ohne Kontext und begraben in einer Liste von anderen Zitaten.

Neu ist der Befund vom „wiederbelebten Hirn“ auch deshalb nicht, weil wir schon lange und mit Sicherheit wissen, dass sich ein EEG wieder einstellen kann, auch wenn es einmal weg war – was bei den Schweinehirnen ja noch nicht einmal passierte. Und das wissen wir sogar vom Menschen! Patienten, die in tiefer Hypothermie und induziertem Kreislaufstillstand operiert werden, haben während der chirurgischen Ausschaltung großer Gefäßmissbildungen im Gehirn keine messbare hirnelektrische Aktivität beziehungsweise keine evozierten Potenziale mehr – und dies durchaus auch für eine volle Stunde. Dennoch gehen glücklicher­weise viele dieser Patienten nach dem Eingriff wieder ihrem Beruf nach.

Analoges kann für Patienten nach geglückter Reanimation bei Herzstillstand gelten. Es sind Stillstandzeiten von bis zu zwanzig Minuten dokumentiert, nach denen die Patienten reanimiert wurden und danach weitgehend „normal“ weiterlebten, allenfalls mit leichten neuropsychologischen Defiziten. Diese betreffen vor allem Störungen des Gedächtnisses und haben mit Zelluntergängen im Hippocampus zu tun – doch davon gleich weiter unten…

Des Weiteren gibt es eine Vielzahl von Studien, insbesondere aus den 1980er- und 1990er-Jahren, zur „isolierten Hirnperfusion“ als Modell zur Untersuchung von Gehirnfunktionen. Dieses sogenannte „isolated brain“ wurde in verschiedene Spezies eingesetzt, darunter auch Schweine, vor allem aber Ratten. Wie im Nature-Artikel wurden die Hirne mit künstlichen Lösungen perfundiert, stoßweise oder kontinuierlich, immer mit synthetischen Sauerstoffträgern, und häufig unter Zusatz hirnprotektiver Substanzen. So recht durchgesetzt haben sich diese Modelle aber ganz offensichtlich nicht, obwohl auch rezente Publikationen davon berichten.

Nun aber zu des Pudels Kern: Vrselja und seine Kollegen zeigen ja letztlich keine dauerhafte Restauration von Hirnfunktion! Und die Erhaltung und Stimulierbarkeit von Gefäßen und Gliazellen verwundert auch niemanden – zumindest nicht diejenigen, die um die Robustheit dieser Zellen wissen. Vor allem aus der Zellkultur ist bekannt, dass diese Zellen sehr resistent gegen Sauerstoffmangel sind. Endothelzellen und Gliazellen können in Zellkultur mehr als 24 Stunden ohne jeden Sauerstoff und Glukose unbeschädigt überstehen.

Dass einzelne Neuronen nach länger andauernder Hypoxie noch elektrische Aktivität zeigten, verwundert auch nicht und ist ebenfalls schon lange bekannt. Was den Autoren und den Reviewern hingegen offensichtlich nicht bekannt war, ist, dass die meisten dieser Neuronen nach etwa einem Tag beginnen abzusterben – und nach drei Tagen tot sind. Nach sechs Stunden, wie bei Vrselja et al. der Fall, sehen sie selbst ultrastrukturell normal aus.

Dieses Phänomen nennt man heue Delayed Neuronal Vulnerability, die Erstbeschreiber nannten es Maturation Phenomenon. Das war in den 60er- und 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Dieser verzögerte neuronale Zelltod befällt prominenterweise die CA1-Region des Hippocampus, aber auch andere Neuronentypen – beispielsweise auch in den Schichten des Neokortex. Über dreißig Jahre haben sich ganze Hundertschaften von Neurowissenschaftlern die Zähne daran ausgebissen, dies Phänomen zu erklären, bis man im neuen Jahrtausend ermattet aufgab und sich anderen Dingen zuwendete. Oder, wie hier geschehen, in Unkenntnis der Literatur von vorne anfing. Groundhog Day!

Das Maturation Phenomenon ist eine der Gründe, warum ein „reperfundiertes Hirn“ nach vier Stunden ohne Hirndurchblutung nicht sinnvoll, das heißt nachhaltig wiederbelebt werden kann. Platt ausgedrückt: Weil die Zellen verzögert sterben. Wenn man nur ein paar Stunden wartet, kriegt man das eben nicht mit.

Nun kann man aber aus der Affäre einiges lernen. Zum einen, dass ganz grundlegendes und relevantes Wissen sehr kurzlebig sein kann. Aus den Augen, aus dem Sinn eben! Was nur noch grauhaarige Neuropathologen kennen, was in PubMed älter als zehn Jahre ist und was nicht im Lehrbuch steht, fällt häufig der Hyperspezialisierung und Fetischisierung des frisch Publizierten zum Opfer. Sprechen Sie ruhig mal mit den Emeriti in deren Abstellkammer gegenüber!

Zum anderen lernen wir – ein ums andere Mal –, dass der vielgerühmte Peer-Review-Prozess in kritischen Momenten oft nicht funktioniert. Auch und gerade in Top-Journalen, die wie Nature in ihrer Jagd nach spektakulären, öffentlichkeitswirksamen Stories bereit sind, akademische Grundregeln zu ignorieren. Dass die Tagespresse sich bei so etwas nicht zweimal bitten lässt und den Verstand komplett verliert, ist da geradezu entschuldbar.

Doch halt, einen Hoffnungsschimmer habe ich zum Schluss: Die Süddeutsche und die FAZ (von der ich übrigens den Titel dieses Beitrags geklaut habe) haben sich nicht anstecken lassen und sehr vernünftig über den Artikel und seine Schwächen berichtet.

Ulrich Dirnagl

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj



Letzte Änderungen: 04.06.2019