Editorial

Der 800-Seiten-Wälzer

(28.06.2019) HIGHLIGHTS AUS 25 JAHREN LABOR­JOUR­NAL: In der Premierenfolge unserer Serie "Mein besonderes Paper" verblüffte uns Axel Brennicke 1999 mit einem wahren Uralt-Mega-Artikel.
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Nur eine vielzitierte Publikation ist eine wichtige Publikation – heißt es jedenfalls heute. Den persönlichen Weg eines Forschers beeinflussen jedoch oft ganz andere. Daher fragen wir Forscherinnen und Forscher: Welche Veröffentlichung hat Sie schwer beeindruckt, welche Ihr Forscherleben entscheidend geprägt? Den Start macht der Ulmer Pflanzen­for­scher Axel Brennicke. Und spricht über ein Paper von 1938.

„Jedenfalls nicht die von Sanger, denn ich habe damals Maxam-Gilbert sequenziert“, antwortet Axel Brennicke auf die obige Frage. Und flugs präsentiert der Ulmer Pionier unserer Serie einen höchst unverdaulichen, sechzig Jahre alten Wälzer, ohne den er wahrscheinlich nicht Spezialist für Mitochondrien-DNA geworden wäre.

Geschrieben hat das Mammutwerk in der Hauptsache Julius Schwemmle, ehemals Genetiker an der Uni Erlangen. Berühmt wurde er indes zeit seines Lebens nicht. Axel Brennicke hingegen, seit 1994 Professor für Pflanzenphysiologie an der Uni Ulm, hat sich inzwischen einen Namen gemacht. Für dessen Forschung stellte Schwemmles Arbeit die entscheidende Weiche. Auch wenn beide Wissenschaftler sich nie kennenlernten.

Schwemmle betrieb klassische Genetik mit Oenothera. Sie gehörte zu den Lieblingen der Pflanzengenetiker in einer Zeit, als Arabidopsis thaliana höchstens als unliebsames Unkraut auffiel. Der Experte in Sachen Vererbungslehre kreuzte Oenotheren vorwärts und rückwärts, beobachtete penibel die Größe von Petalen und Pollen, zählte Zacken und die weiß-grün-gescheckte Zeichnung der Blätter. Das Ergebnis: eine fast 800 Seiten starke Publikation von Schwemmle et al., 1938 in der “Zeitschrift für Vererbungslehre” erschienen.

Schwemmle fand Unterschiede zwischen den reziproken Kreuzungen. Von DNA wusste er noch nichts, denn damals spielten Watson und Crick noch im Sandkasten. Er hantierte noch mit Begriffen wie Plasmon, Plastidom und Plasma, um die Ergebnisse seiner Kreuzungen zu beschreiben. Die Interpretation seiner Ergebnisse fasst Brennicke heute so zusammen: „Es gibt maternale Vererbung, paternale Transmission, und es muss mindestens zwei extrachomosomale Genome geben.“ Niemals sei es ihm gelungen, die phänotypischen Unterschiede zu sehen, behauptet Brennicke.

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Wer’s glaubt... Es hat ihn eigentlich auch nicht interessiert – er wollte ja Molekularbiologie betreiben. Nachdem er sein Staatsexamen in Biologie und Physik in der Tasche und „Genetische und zytologische Untersuchungen an Eu-Oenotheren“ von Julius Schwemmle gelesen hatte, begab er sich 1976 in Tübingen auf die Suche nach der mitochondrialen DNA. Sein Doktorvater war Schwemmles Sohn, sein Ausgangsmaterial die alten Oenotheren aus den 30er Jahren. Brennicke hatte Erfolg – er bestätigte molekularbiologisch, was Schwemmle schon vermutet hatte. Die Chloroplasten der Oenotheren kamen von einem Elter, die Mitochondrien von dem anderen Elter.

Heute wissen wir, dass sowohl Plastiden als auch Mitochondrien Genome enthalten, die in der Regel (eine Ausnahme ist die Nachtkerze) von der Mutter vererbt werden. Exakt 366.924 Nukleotide umfasst das Mitochondriengenom von Arabidopsis thaliana. Brennicke und seine Getreuen haben genau nachgezählt.

Während Genomanalysen derzeit Hochkonjunktur haben, führen die Experten für Extrachromosomales eher ein Mauerblüm-chendasein. So bekam Brennicke beispielsweise kein Geld aus dem Topf für die Sequenzierung des Arabidopsis-Genoms. Es dürfte ihn deshalb diebisch gefreut haben, dass er die Editoren von Nature Genetics überzeugen konnte, die Mitochondrien-Genomsequenz in ihrer edlen Zeitschrift zu veröffentlichen (Bd. 15, 1997, S. 57 ff.).

Ist die Forschung an Mitochondrien-DNA nicht von rein akademischem Interesse, ganz ohne Anwendungsbezug? „Na klar! Ich betreibe Grundlagenforschung, denn ich bin an einer Uni und nicht in einer Firma“, entgegnet Brennicke. Lediglich Züchter könnten ihre Ergebnisse verwerten, glaubt er. Für die Produktion von Hybriden braucht man nämlich sterile männliche Pflanzen, und dieses Merkmal wird häufig durch Mutationen im Mitochondriengenom ausgelöst. Und wenn es um das liebe Geld geht, brächten Verweise auf eine zukünftige Anwendung sowieso doch nichts mehr. „Heutzutage muss man eine Firma in Planung haben“, sagt Brennicke und grinst sich eins. Mit diesem Argument hat er einst vom BMBF Geld bekommen – und sich auch wahrhaftig als Firmen-Mitgründer engagiert. Als er noch am Institut für Genbiologische Forschung in Berlin arbeitete, wurde die Replicon GmbH aus der Taufe gehoben. Und in Berlin demonstrierte er zeitgleich mit zwei anderen Gruppen der staunenden Fachfeld das RNA-Editing.

Seit fünf Jahren ist Brennicke in Ulm. Er hätte auch nach Freiburg, einer Hochburg der Pflanzengenetik, gehen können, entschied sich aber für die kleine Uni an der Donau, denn: „Hier waren die Bedingungen besser und die Verwaltung weniger halsstarrig.“ Und wenn man Marktlücken-Forschung betreibe, dann könne man das überall tun, weil man dann nicht auf stündlichen Kontakt angewiesen sei. Heute sei die Randlage allerdings wieder nachteilig, denn im Moment stecke das BMBF „Fördermittel nach quantitativen Selektionskritierien in wenige Zentren“, meint Brennicke.

Da sagt er nichts Neues: „Denn wer da hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er meint zu haben“ (Lukas 8, Vers 18).

Karin Hollricher


(2003 begann Axel Brennicke, seine beliebte regelmäßige Kolumne „Ansichten eines Profs“ in Laborjournal zu schreiben. Bis kurz vor seinem Tod im Februar 2017. Am Ende waren es über hundert Folgen – alle auch heute noch HIER zu lesen.)



Letzte Änderungen: 27.06.2019