Nicht das Virus allein
Ein solcher Gegensatz zu symptomlosen Patienten kann nicht nur auf Unterschieden in Viruslast oder viraler Aktivität beruhen. Tatsächlich ist von der SARS-Epidemie 2003 bekannt, dass Virustiter bei schweren Krankheitsverläufen in Menschen und Tiermodellen sogar abnehmen können. Treibt also ein immunvermittelter Amplifikationsmechanismus den klinischen Verlauf schwerer Fälle an? Ist COVID-19 eine Autoimmunerkrankung?
Apoptose-Forscher Peter Krammer, der bis April 2020 das Institut für Immunologie und Genetik des Heidelberger DKFZ leitete, plädiert: „Nach der Dominanz der Virologen und Epidemiologen wird es Zeit, Immunologen in die Diskussion einzubinden. Denn COVID-19 ist keine lokalisierte Rachenentzündung, sondern eine systemische Erkrankung. Wir müssen ihre Pathogenese und autoaggressiven Aspekte verstehen!“
Überreaktionen des Immunsystems sind seit Jahrzehnten von Flavi-, Filo- und Lentiviren bekannt. Wenn beispielsweise kreuzreaktive Antikörper eindringende Dengue-Viren erkennen, erhöht sich das Risiko für schwere Verlaufsformen des hämorrhagischen Fiebers um eine ganze Größenordnung. Auch bei der SARS-Epidemie 2003 entschieden Qualität und Quantität der Antikörper-Antwort über den klinischen Verlauf. Schwere SARS-Fälle manifestierten sich, wenn Antikörpertiter früh stiegen. Entwickelten SARS-Patienten dagegen neutralisierende Antikörper erst nach mehrwöchiger Inkubation, verlief die Krankheit milder.
Fc-Fragmente entscheiden
SARS-CoV-Antikörper blockieren die Fusion von Coronaviren mit Zielzellen meist dadurch, dass ihre Fab-Fragmente die ACE2-Bindedomäne des viralen Spike-Proteins erkennen. Reicht die Summe aus Konzentration, Spezifität und Affinität der Antikörper aber nicht aus, um alle Viren zu neutralisieren, können opsonierte Viruspartikel Zielzellen sogar leichter infizieren. Ob eine Immunpathogenese entsteht, entscheiden dabei die Fc-Fragmente der Antikörper. Falls sie den Kontakt zu zellulären Fcγ-Rezeptoren (FcγR) herstellen, können opsonierte SARS-Coronaviren B-Zellen über eine ACE2-unabhängige, FcγR-vermittelte Endozytose infizieren und die antivirale Immunantwort inhibieren (J Virol, 85(20):10582–97). Besonders Patienten, deren FcγR-Isoformen bevorzugt IgG1 und IgG2 binden, entwickeln dann eine starke SARS-CoV-Symptomatik (Tissue Antigens, 66(4):291–6). Erkranken COVID-19-Patienten also schwer, wenn sie über kreuzreaktive oder schwach konzentrierte Antikörper früherer Coronavirus-Infektionen verfügen?
Falls ja, ließen sich ARDS-Patienten anhand von Infektionen mit den endemischen Coronaviridae HCoV-HKU1, HCoV-OC43, HCoV-NL63 und HCoV-229E erklären, die ein Zehntel aller respiratorischen Erkrankungen der Nasen- und Rachenschleimhaut im Menschen ausmachen. Eines erklärt diese Vermutung jedoch nicht, nämlich wie SARS-Symptome zunehmen können, wenn Antikörpertiter abnehmen. Peter Krammer: „Was aber, wenn Antikörper die T-Zellen und natürlichen Killerzellen von COVID-19-Patienten aktivieren? Würde ihr Immunsystem dann Lungenbläschen angreifen? Die Evidenzen für solch einen autoaggressiven Mechanismus häufen sich.“
Tatsächlich können Immunkomplexe Entzündungsreaktionen auslösen, indem sie T-Lymphozyten, dendritische Zellen und Phagozyten aktivieren. Das geschieht entweder über Fc-Rezeptoren auf deren Zelloberflächen oder über endosomale Toll-like-Rezeptoren wie TLR3, TLR7 und TLR8, die auf internalisierte Virus-RNA ansprechen. Nach Aktivierung sezernieren die Immunzellen pro-inflammatorische Zytokine wie TNF-α, IFN-γ, IL-1, -2, -6, und -8, MCP-1 sowie CXCL10 oder regeln anti-inflammatorische Zytokine wie TGF-β, IL-4 und -10 herunter. Die ausgeschütteten Botenstoffe rekrutieren daraufhin Immunzellen, die ihrerseits Zytokine sezernieren, die wiederum Immunzellen rekrutieren und so weiter. Verstärkt sich diese Rückkopplung ungebremst, entgleist das Immunsystem und schaukelt sich bis zu einer systemischen Entzündungsreaktion auf, dem Zytokinsturm. Immunzellen greifen dann auch gesundes Gewebe an. Treiben also neben einer hohen Viruslast kontinuierlich ausgeschüttete Zytokine die COVID-19-Pathologie an?
Nicht eindeutig
Klinische Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Laut einer Publikation von Februar 2020 nehmen die Titer der pro-inflammatorischen Mediatoren TNF-α, IFN-γ, IL-8, MCP-1 und CXCL10 im Blutplasma von COVID-19-Patienten zu (Lancet, 395(10223):497-506). Gemäß einer Studie vier Wochen später ändern sich die Serumkonzentrationen an TNF-α und IL-8 sowie an IL-1 und -10 dagegen nicht. Nur die Titer der pro-inflammatorischen Interleukine 2 und 6 nehmen mit der Schwere der COVID-19-Erkrankung zu (Zhonghua Jie He He Hu Xi Za Zhi, 43(3):203-8). Eine dritte Studie intensivpflichtiger Patienten im März 2020 zeigt neben erhöhten Konzentrationen an TNF-α, IL-2, -6, MCP-1 und CXCL10 auch hohe Titer des anti-inflammatorischen IL-10 sowie niedrige Titer des pro-inflammatorischen IFN-γ (J Clin Invest, 130(5):2620–9).
Für allgemeingültige Aussagen fehlen offensichtlich noch differenzierte Daten. Bisher wird einzig IL-6 als möglicher Indikator für Schwere und Prognose von COVID-19 diskutiert (Clin Chem Lab Med, DOI: 10.1515/cclm-2020-0369). IL-6-Antagonisten wie etwa das bei Rheuma eingesetzte Tocilizumab, das den IL-6-Rezeptor bindet und dessen Signaltransduktionsweg abschaltet, könnten sich auch als COVID-19-Medikament erweisen.
Der Zytokinsturm hat aber noch eine weitere Konsequenz. Er führt zu einem umfangreichen Verlust CD4- und CD8-positiver T-Zellen. Laut allen bisherigen Studien geht das Ausmaß dieser Lymphopenie ebenfalls mit der Schwere der COVID-19-Erkrankung einher. Den Lymphozytentod verursacht ein hoher Spiegel des Immunostatikums CD95-Ligand (CD95L), das gleichzeitig den entzündlichen Zelltod des Alveolarepithels in der ARDS-Lunge auslöst. Könnten also vielleicht CD95L-Inhibitoren schwere COVID-19-Fälle verhindern?
Gelöster Todesrezeptor
Das vermutet zumindest Peter Krammer, der im Jahr 2000 das Start-up Apogenix mitgründete: „Vor dreißig Jahren haben wir den Fas-Rezeptor/CD95 aus der TNF-Rezeptor-Familie entdeckt, der nach Bindung von CD95L die Apoptose betroffener Zellen auslöst. Jetzt hoffen wir, mit seiner Hilfe COVID-19 behandeln zu können, indem wir den Todesrezeptor gelöst verabreichen und ausgeschüttetes CD95L wegfangen.“
Seit 2006 entwickelt Apogenix das lösliche CD95-Fc-Fusionsprotein unter dem Namen Asunercept zur Behandlung maligner hämatologischer Erkrankungen. In einer Phase-2-Wirksamkeitsstudie hat es sich bereits gegenüber Glioblastomen bewiesen. „Deshalb evaluieren wir es jetzt auch in klinischen Phase-2-Studien an akut erkrankten COVID-19-Patienten in Österreich, Spanien und Italien,“ erklärt Krammer. „Wir hoffen, dass es durch Blockade von CD95L sowohl den entzündlichen Zelltod von Lymphozyten als auch von Pneumozyten in den Lungen von ARDS-Patienten reduziert.“ Eine intensivmedizinische Beatmungstherapie wäre dann vielleicht nicht länger notwendig. Finale Daten werden im Frühjahr 2021 erwartet.
Unterdessen haben US-amerikanische Wissenschaftler kürzlich beobachtet, dass in Monozyten von COVID-19-Patienten die Aktivität der Bruton-Tyrosinkinase (BTK) erhöht ist. Diese Kinase ist bei der B-Zell-Entwicklung wichtig, sie reguliert aber auch die Aktivität von Makrophagen. Zu viele aktivierte Makrophagen, so die Autoren, könnten den gefürchteten Zytokinsturm entfesseln. Um diesen unter Kontrolle zu bekommen, verabreichten Roschewski et al. beatmeten COVID-19-Patienten einen BTK-Inhibitor (Acalabrutinib), der in den USA zur Behandlung von Blutkrebs zugelassen ist (Sci Immunol, 5(48):eabd0110). Ergebnis: die Konzentration des pro-inflammatorischen Interleukins-6 sank, die Zahl der Lymphozyten normalisierte sich und 10 von 19 Patienten konnten wieder ohne Unterstützung durchatmen.
Henrik Müller
Kathleen Gransalke
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