Editorial

Das Tier als Messinstrument

(08.09.2020) Die Wissenschaft steckt in einer Repro­duzierbar­keitskrise – besonders dort, wo Tiermodelle zum Einsatz kommen. Zeit für einen Para­digmen­wechsel.
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Eine Kunststoff­schale mit Gitter­deckel, Futter­pellets und Wasser, Einstreu sowie Nist­material – Mäuse, aber auch andere Modelltiere, fristen in Laboren sowie Tier­häusern weltweit ein nahezu iden­tisches Leben. Die For­schenden möchten damit präzisere Versuchs­ergebnisse erzielen und deren Repro­duzierbarkeit gewähr­leisten. „Doch das ist ein Trugschluss“, ist sich Hanno Würbel von der Universität Bern sicher, der seit zwanzig Jahren die Auswir­kungen der Standar­disierung von Tier­versuchen untersucht.

„Standar­disierung war anfangs darauf ausgelegt, sicherzu­stellen, dass Versuche richtig und vernünftig durch­geführt wurden. Wenn ich in einem Versuch meine Labor­mäuse mit einer Kontroll­gruppe von Mäusen vergleiche, die ich von der Straße aufge­sammelt habe, vergleiche ich quasi Äpfel mit Birnen“, beschreibt Würbel die Hinter­gründe. Je einheit­licher die Tiere sind, desto weniger Variation taucht in den Versuchs­ergebnissen auf. „Dieser Gedanke hat stark überhand­genommen und wurde so schließlich zu einer Art Dogma, möglichst alle Variablen zu kontrol­lieren und auf einen Wert einzustellen“, sagt Würbel. „Man hat das Tier zunehmend zu einem Mess­instrument gemacht und dabei übersehen, dass man damit den Gültig­keitsbereich der Ergeb­nisse immer weiter einschränkt. Wenn ich ein Experiment an einer einzigen Maus-Klonlinie durchführe, zu einer gewissen Tageszeit, bei einer spezifischen Temperatur – dann sind die Ergebnisse erst einmal nur für eben diese Versuchs­bedingungen gültig und nicht zwangs­läufig für Mäuse allgemein.“ Ein inter­disziplinäres Team um Würbel fordert deshalb einen Paradig­menwechsel: weg von zu viel Standar­disierung, hin zu mehr geplanter biologischer Variation im Tierversuchs­design (Nat Rev Neurosci, 21: 384-93).

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Alte Idee

Die Idee hinter dem als systema­tische Hetero­genisierung bekannten Konzept ist nicht neu. Vor drei Jahren hatte der Verhaltens­forscher aus Bern seine Meinung beispiels­weise in einem LJ-Forscher-Essay kundgetan (7-8/2017: 18-21). Neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft stärken das Konzept der systema­tischen Hetero­genisierung jedoch immer weiter. Dabei gibt es viele unter­schiedliche Möglich­keiten, Variationen bei Tier­versuchen einzu­bringen, entweder bei den Tieren selbst, ihrer Umwelt oder dem Versuchs­ablauf. So können Forschende auf Tiere mit etwa unter­schiedlichem Genotyp, Alter oder Geschlecht zurück­greifen oder die Haltungs­form der Tiere variieren – beispiels­weise die Temperatur, bei der sie aufwachsen, oder ihr Futter.

Eine weitere Form der Hetero­genisierung ist das Aufsplitten eines Experiments in mehrere kleine Teil­experimente (Batch Hetero­genization). Die Tiere werden dabei nicht mehr alle auf einmal getestet, sondern aufgeteilt an unterschiedlichen Tagen, möglicher­weise auch zu unter­schiedlichen Uhrzeiten. Die Anzahl der Tiere bleibt gleich. Diese Methode soll die höchste Form der Hetero­genisierung nachahmen: die Multi­laborstudie, also die Durch­führung eines Versuchs in mehreren Laboren. „Im Vergleich zu den Varia­tionen, die man innerhalb eines Labors einbringen kann, ist die Multi­laborstudie bislang die ultimative Form der Hetero­genisierung“, so Würbel.

Noch optimierbar

Würbel ergänzt einen wichtigen Punkt: „Bei Multil­aborstudien hat man zwar eine größere Aussage­kraft, aber man weiß nie so genau, was man jetzt variiert hat.“ Deshalb unter­stütze er vor allem das Konzept der systema­tischen Hetero­genisierung innerhalb eines Labors – auch wenn die bislang von den Forschenden unter­suchten Hetero­genisierungs­maßnahmen noch nicht die gleiche Variation bringen wie Multi­laborstudien. Einzig bei biomedi­zinischen Frage­stellungen sieht Würbel derzeit keine Alternative, dort seien Multi­laborstudien unab­dingbar, weil diese schließlich den Test im Menschen stand­halten müssen.

Ein Patentrezept zur Hetero­genisierung können der Verhaltens­forscher und seine Kollegen allerdings nicht geben – und das wollen sie auch gar nicht. „Wir möchten keine fixen Rezepte in die Welt setzen. Es geht vielmehr darum, sich bewusst zu machen, dass man es in der bio­logischen Forschung mit Lebe­wesen zu tun hat, die charak­terisiert sind durch biologische Variation. Wenn man diese Variation nicht in die Forschung einbezieht, dann forscht man an der Biologie vorbei.“

Ablehnung lässt nach

Die Debatte rund um das Thema trägt Früchte. „Vor zehn Jahren war die Ablehnung gegenüber dem Konzept der Hetero­genisierung noch recht groß. Gerade weil damals auch die Repro­duzierbar­keitskrise noch nicht so anerkannt war. Das hat sich jetzt aber stark geändert, und Wissen­schaftlerinnen und Wissen­schaftler suchen aktiv nach Ursachen für die Krise und wie man sie bewältigen kann“, sagt Helene Richter, ehemalige Doktorandin von Würbel und jetzt Professorin für Verhaltens­biologie und Tierschutz an der Uni Münster.

Ist es also nur eine Frage der Zeit, bis sich die syste­matische Hetero­genisierung zum neuen Standard entwickelt? „Nur, wenn weitere empirische Studien das sehr über­zeugende Konzept belegen“, ist sich Richter sicher. „Kritiker möchten die Verbes­serungen doch gerne schwarz auf weiß sehen.“ Alle anderen Wissen­schaftler sicherlich auch.

Juliet Merz

Foto: iStock/tiripero

Dieser Artikel wurde für unsere Webseite stark gekürzt. Den ausführlichen Text können Sie im Laborjournal-Heft (Ausgabe: 9-2020) lesen.




Letzte Änderungen: 08.09.2020