Editorial

Familiengeschichte auf genetisch

(08.10.2020) Siddhartha Mukherjee verknüpft in seinem Buch zwei Biografien miteinander: die seiner Familie und die „des Gens“. Spannende und informative Lektüre.
editorial_bild

Der schlichte Titel „Das Gen“ lässt zuerst an ein Lehrbuch der Genetik denken. Im Wider­spruch dazu steht der Untertitel „Eine sehr persön­liche Geschichte“. Tatsäch­lich charak­terisiert genau dieses Span­nungsfeld das 2017 zum Wissen­schaftsbuch des Jahres gekürte Werk des indischen Arztes Siddhartha Mukherjee. Denn während Mukherjee auf der einen Seite anschaulich und detailreich die Entdeckungs­geschichte von Genen und ihrer Vererbung nacherzählt, nimmt er den Leser auf der anderen Seite mit in das Indien seiner Kindheit, um ihn an seiner eigenen Familien­geschichte teilhaben zu lassen.

Diese kann durchaus als tragisch bezeichnet werden, versteckt sich doch in der Familie seines Vaters ein „Makel“, ein Gendefekt: Immer wieder erkranken männliche Familien­mitglieder an Schizophrenie. Auf packende und berührende Weise schildert Mukherjee die Hilf­losigkeit seiner Familie angesichts der plötzlich auftretenden, rätsel­haften Symptome, das Unverständnis für die Krankheit und die Angst seines Vaters, selbst betroffen zu sein.

Editorial

Biografie des Gens

Den Einstieg in die Geschichte macht Mukherjees Besuch bei seinem Cousin Moni, der in einer psychia­trischen Einrichtung unter­gebracht ist. Von dort begibt sich der Autor, der inzwischen als Krebs­forscher an der Columbia University in New York arbeitet, zurück in die Zeit der Anfänge der Genetik. Jedem der sechs großen Kapitel ist ein bestimmter Zeit­abschnitt zugeordnet: Die ersten beiden Kapitel beschäftigen sich mit der Entdeckung der Gene (1865–1935) und der Vererbungs­mechanismen (1930–1970).

Nachdenklich macht gleich zu Beginn die Geschichte von Mendels Ringen um Anerkennung für seine in mühsamer Kleinarbeit gewonnenen Erkennt­nisse zur Vererbung von Merkmalen, die ihm erst lange nach seinem Tod zuteil wurde. Unwill­kürlich stellt man sich die Frage: Wie hätte sich der Lauf der (Wissen­schafts)geschichte verändert, wenn Darwin Mendels Publikation gelesen hätte? Weiter geht es mit Thomas Hunt Morgan und seinem Fliegenlabor, in dem die Gene als frei übertrag­bares Prinzip entdeckt wurden, mit dem Beweis, dass die DNA und nicht die Proteine Basis der Erbanlagen sind sowie den Erkennt­nissen zur Organi­sation und Regulation von Genen. Auch heute noch erschütternd und wohl vielen Lesern unbekannt sind die Fakten zur Eugenik-Bewegung, die zwar im national­sozialistischen Deutschland ihren grausamen Höhe­punkt fand, aber lange zuvor in den USA mit Internie­rungslagern und Zwangs­sterilisationen begann.

Der Mensch greift ein

Kapitel drei und vier führen uns in die „Neuzeit“ der Genetik, die mit der Entdeckung der Restriktions­enzyme Ende der 1960er-Jahre eingeleitet wurde. In den nächsten Jahr­zehnten lernten die Forscher die Informationen in Genen zu entschlüsseln und zu verändern und schließlich diese Techniken auf den Menschen anzuwenden.

Etwas sperriger ist das 5. Kapitel, das sich haupt­sächlich mit zwei großen Fragen beschäftigt: Was ist „normal“ und was „anders“ oder sogar „krank“? Und wer bin ich, was macht mich oder was macht uns als Volk oder Gruppe aus? Ethnische Herkunft und Geschlechts­identität sind hier die großen Stichworte.

Im abschließenden Kapitel „Post-Genom“ blickt Mukherjee ausgehend vom Jahr 2015 in die Zukunft. Wie wird sich unser Leben dadurch ändern, dass heute jeder schnell und günstig sein Genom sequenzieren lassen kann? Wie gehen wir mit dem Wissen um, dass wir die Veranlagung für eine schwer­wiegende Krankheit aufweisen? Ist Nichtwissen manchmal vielleicht besser als Wissen? Und was ist heute schon thera­peutisch möglich, was in Zukunft? Auf diese Fragen gibt der Autor zwar keine vorge­fertigten Antworten, dafür aber faszinie­rende Einblicke und (durchaus philoso­phische) Ausblicke in die aktuelle biomedi­zinische Forschung.

Immer wieder kehrt Mukherjee dabei zurück zu seinen persönlichen Erfahrungen und schildert dadurch sehr authentisch, wie neue Diagnostik- und Therapie­möglichkeiten das Leben von Betroffenen (meist, aber nicht immer positiv) beeinflussen. „Das Gen“ ist spannend, unterhaltsam und lehrreich – quasi Lehrbuch, Biografie und Roman in einem. Durch die klare, schöne Sprache ist die Lektüre gleicher­maßen auf Deutsch und Englisch ein Genuss.

Larissa Tetsch

Bild: Fischer Verlag

Im demnächst erscheinenden Laborjournal (Ausgabe: 10/2020) haben wir weitere Buch-Rezensionen „rund ums Gen“ für Sie vorbereitet.

-------------
Siddhartha Mukherjee:
Das Gen – eine sehr persönliche Geschichte
Fischer Verlag (2019)
Sprache: Deutsch,
768 Seiten
Preis: 16 Euro (Taschenbuch), 14,99 Euro (E-Book)




Letzte Änderungen: 08.10.2020