Editorial

Keimfreies Chaos

(23.02.2021) Die Mikrobiota spielt für mehrzellige Lebewesen wie die Ohrenqualle eine wichtige Rolle und beeinflusst auch ihr Liebesleben.
editorial_bild

Tiermodelle sind in mikrobio­logischen Instituten eher selten. An der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel findet man sie dennoch, zum Beispiel in der Arbeits­gruppe von Ruth Schmitz-Streit. „Als ich damals von Mittel­deutschland, genauer von Göttingen, an die Küsten-nahe Kieler Uni gewechselt bin, wollte ich unbedingt etwas Meer- beziehungsweise Küsten-Spezifisches machen. Wir haben uns dann den tierischen Modell­organismus Aurelia aurita, die Ohrenqualle, für unsere Forschung ausgesucht“, erinnert sich die Mikro­biologin während Postdokto­randin und Projekt­leiterin Nancy Weiland-Bräuer den mikrobio­logischen Bezug weiter erläutert: „Wir möchten in einem unserer Forschungs­projekte herausfinden, welchen Einfluss die Mikrobiota der Ohrenqualle auf ihren Wirt hat.“ Mit Erfolg: Die Kieler Gruppe konnte in einer kürzlich in mBio-veröffent­lichten Studie zeigen, dass die Entwicklung und Gesundheit der Nesseltiere stark von ihrer Mikrobiota abhängt.

Editorial

Aber warum wählten Schmitz-Streit und Co. ausgerechnet A. aurita für ihre Forschungs­arbeit und nicht eine andere Quallenart? „Ohrenquallen sind ubiquitär überall in den Ozeanen verbreitet – von der Ostküste der USA bis zur Nord- und Ostsee“, weiß Schmitz-Streit und nennt die Gründe für die weite Verbreitung: „Die Tiere tolerieren unter­schiedliche Salzkonzen­trationen sowie Temperaturen und können sich gut an die verschie­densten Bedingungen im Wasser anpassen.“ Ohrenquallen sind außerdem besonders ursprünglich und haben einen recht einfachen Körperbau. Sie bestehen aus gerade einmal zwei Gewebe­schichten, dem Ektoderm und Endoderm, welche eine geleeartige Schicht namens Mesogloea umschließen. Somit ist der Schauplatz, den Schmitz-Streit und ihr Team im Auge behalten müssen und wo die Inter­aktionen zwischen Mikroben und Wirt stattfinden, recht übersichtlich – ein ideales Forschungs­objekt also.

Die Kieler Mikrobiologen arbeiten fast ausschließlich mit dem Polypen-Stadium der Quallen, die wie viele andere Nesseltiere auch einen Generations­wechsel durchlaufen, bei dem sich die Tiere sowohl geschlechtlich als auch ungeschlechtlich fortpflanzen können. Die Ohrenqualle startet als befruchtetes Ei, welches sich zu einer im Wasser schwimmenden Planula-Larve weiter­entwickelt. Diese setzt sich auf Steinen, dem Meeresgrund oder Ähnlichem ab und bildet einen sesshaften Polypen. In diesem Stadium kann sich die Ohrenqualle ungeschlechtlich durch Knospung vermehren oder aber – ausgelöst durch etwa Temperatur­absenkung und ein vermehrtes Nahrungs­angebot – die Strobilation einleiten. Hierbei verlängern sich die Polypen, färben sich braun ein und schnüren kleine medusen­artige Vorläufer ab, sogenannte Ephyren, die sich anschließend zur frei schwimmenden, schirmartigen Meduse weiterentwickeln.

Die Tiere sind nun in der Lage, sich geschlechtlich fortzupflanzen. Die Männchen geben ihre Samen ins Wasser ab und befruchten damit die Eizellen, welche sich an den tentakel­ähnlichen Mundarmen der Weibchen befinden. Mit der entstandenen Planula-Larve beginnt der Zyklus von vorne.

Weiland-Bräuer und ihre Kollegen arbeiten hauptsächlich mit den sesshaften Polypen. Der Grund: „In dem sesshaften Entwicklungs­stadium sind die Tiere besser zu handhaben. Außerdem benötigen Medusen mit einem Schirm­durchmesser von zehn Zentimetern – und sie können bis zu vierzig Zentimeter groß werden – große Wassertanks. Die Polypen sind da genügsamer: Ihnen reichen kleine Zwei-Liter-Tanks und als Nahrung kleine Krebstierchen.“ Für ihre Forschungs­arbeit müssen die Kieler Mikro­biologen also nicht nach freischwim­menden Medusen fischen, sondern können die Polypen einfach vom Boden der Tanks heraus­picken und auf Versuchs­platten setzen.

Um Quallen-Nachschub kümmern sich die Polypen durch unge­schlechtliche Knospung meist selbst. Zwar ist die Zucht mittels sexueller Fort­pflanzung genauso möglich, für die Kieler Wissen­schaftler aber zu aufwendig. Sollten die Quallen die Knospung mal verweigern, lichtet die Forscher­gruppe den Anker. „Dank unseres Standorts in Kiel können meine Mitarbeiter regelmäßig auf einem Forschungs­schiff nach neuen Quallen fischen – das ist immer ein Highlight für die Studenten!“, berichtet Schmitz-Streit. Weiland-Bräuer ergänzt, warum das Quallen­fischen auch gar nicht so schwierig ist: „Tragen weibliche Ohrenquallen befruchtete Eier mit sich, erkennt man das ganz einfach an bräunlichen Brutsäcken, die an den Mundarmen hängen. Wir setzen die Meduse dann in eine mit Meerwasser gefüllte Plastiktüte, schütteln sie kräftig und entlassen das Tier anschließend wieder zurück in den Ozean. Durch das Schütteln gibt die Meduse ihre befruchteten Eizellen bereitwillig ab, die dann in der Plastiktüte verbleiben und mit ins Labor kommen.“ Praktisch dabei: Ohrenquallen besitzen keine brennenden Nesseln.

Keine Mikroben, kein Sex

Um zu untersuchen, inwiefern die Mikrobiota den Quallen-Polypen beeinflusst, verordneten die Experi­mentatoren den Nesseltieren eine einwöchige Antibiotika-Kur. Anschließend untersuchten sie die Polypen auf mikrobielle Rückstände. Als Marker wählten die Forscher das Gen für die prokaryo­tische 16S-ribosomale RNA. Konnten sie dieses mithilfe der Polymerase-Ketten­reaktion amplifizieren, mussten sich noch Bakterien auf den Polypen befinden, was eine weitere Runde Antibiotika einläutete. Zeigte sich bei der Gelelektro­phorese hingegen keine Bande, konnte die Kieler Gruppe sicher sein, dass die Quallen keimfrei waren.

Die Auswirkungen des Mikrobiota-Entzugs waren den Quallen bald mit bloßem Auge anzusehen: „Die Polypen wirkten sichtlich kränklich, bildeten ihre Tentakel zurück und/oder rollten sich ein“, beschreibt Weiland-Bräuer ihre Beobachtungen. Besonders stark zeigte sich der Einfluss bei der Vermehrung der Tiere – sowohl bei der ungeschlecht­lichen Knospung als auch der Strobilation. Beide Vorgänge funktionierten im keimfreien Zustand überhaupt nicht mehr. „Die Entwicklung der Quallen stoppte im Polypen-Stadium, sie konnten weder Knospen produzieren noch Ephyren abschnüren und damit keine geschlechts­reifen Medusen bilden“, fasst die Postdokto­randin zusammen. Um sicherzugehen, dass die Quallen nicht aufgrund der Antibiotika streikten, besiedelte die Gruppe die keimfreien Polypen mit einem Bakterien-Cocktail – und siehe da, die Polypen knospten und strobilierten. „Die Strobilation verläuft bei einer Re-Kolonisierung von Mikroben fast identisch mit den nativen Polypen, und die Entwicklung der Quallen lässt sich so fortsetzen“, wirft Schmitz-Streit ein.

Warum sich die Polypen bei fehlender Mikroben-Besiedlung nicht weiter­entwickeln, bleibt für die Forscher bislang noch ein Rätsel. Schmitz-Streit et al. vermuten aber, dass die Mikrobiota mindestens ein Molekül produziert, das die Quallen-Entwicklung steuert beziehungs­weise überhaupt ermöglicht. Schmitz-Streit: „Das kann zum Beispiel ein Metabolit sein, eine Aminosäure, ein zyklisches GMP oder ein anderes kleines Signal­molekül abgeleitet von Nukleotiden. Wahrscheinlich ist es sogar ein ganzes Set unter­schiedlicher Stoffwechsel­produkte, die eine Signal­wirkung haben – aber das sind bislang nur Vermutungen, denen wir nun nachgehen möchten.“

Die fehlende Mikrobiota hatte allerdings noch weitere negative Einflüsse auf die Quallen. Sterile Polypen zeigten schon zu Beginn des Experiments vermehrt Miss­bildungen und verkümmerten, was sich mit der Zeit sogar noch verschlechterte. Infizierten die Forscher die keimfreien Quallen zudem mit potenziell pathogenen Keimen, kamen diese viel schlechter mit der Infektion klar, als ihre divers besiedelten Kollegen. „Ohrenquallen haben zwar eine Art angeborenes Immunsystem, welches sie vor schädlichen Mikroben schützt“, weiß Schmitz-Streit. „Die kommensalen Bakterien auf ihrer Gewebs­oberfläche scheinen aber zusätzlich eine abwehrende Funktion einzunehmen. Das kennen wir auch vom Menschen, beispielsweise mit schützenden Bakterien­konsortien im Darm oder auf der Haut.“

In einer weiteren Studie konnten Weiland-Bräuer und Co. zeigen, dass Ohrenquallen die Zusammen­setzung ihrer Mikrobiota noch zusätzlich steuern (Sci Rep, 9(1): 34). Die Nesseltiere produzieren Proteine, welche die Kommunikation der Bakterien untereinander, das Quorum Sensing, beeinflussen. Damit formt die Qualle eine für sie passende Mikrobiota, die aus schätzungs­weise über 500 unter­schiedlichen, nicht-pathogenen Mikroben-Arten besteht. Welche davon besonders einflussreich auf die Entwicklung der Ohrenqualle wirken, ist Gegenstand zukünftiger Forschung in der Kieler Arbeits­gruppe. Weiland-Bräuer: „Mit unseren bisherigen Ergebnissen haben wir unter­schiedliche Sets mit zwischen zwanzig und fünfzig unterschiedlichen Mikroben-Arten zusammen­gestellt, welche bei einer Re-Kolonisierung die negativen Effekte eines sterilen Polypen verbessern und somit besonders zur Fitness sowie Entwicklung der Quallen beitragen.“ Welche Mikroben dazu gehören, bleibt noch ein Geheimnis.

Quallen- statt Fischbrötchen

Die Ergebnisse der Kieler Mikro­biologen haben derweil auch ökologische Relevanz: „Schädliche Quallen­blüten häufen sich in den vergangenen Jahren und bringen das Ökosystem aus dem Gleichgewicht“, berichtet Schmitz-Streit. Warum sie auftreten, sei allerdings noch nicht ganz geklärt, als Auslöser werden zu große Mengen an Nährstoffen im Ozean angenommen. Besonders gravierend ist die explosions­artige Vermehrung der Quallen für andere Meeres­bewohner. Denn die Medusen haben einen großen Appetit und ernähren sich beispielsweise von Plankton, Krebstieren sowie Fischeiern. Darunter leidet dann auch die Aquakultur. Ebenso die Schifffahrt und der Strand­tourismus haben mit den Quallen­blüten zu kämpfen. „Wenn wir verstehen, wie es überhaupt zu einer Vermehrung der Quallen kommt beziehungs­weise welche Mikroben oder Moleküle diese beeinflussen, ist das der erste Schritt, Quallen­blüten in Zukunft unter Kontrolle zu bekommen“, ist sich Schmitz-Streit sicher. „Ansonsten gibt es anstatt Fisch- bald nur noch Quallen­brötchen zu essen.“ Na dann, guten Appetit.

Juliet Merz

Weiland-Bräuer N. et al. (2020): The Native Microbiome is Crucial for Offspring Generation and Fitness of Aurelia aurita. mbio, 11(6):e02336-20

Bild: Pixabay/Genga_Clicks


Weitere Artikel zum Thema Mikrobiom:


- Von Darmbewohnern und Algenfressern

Mikrobielle Gemeinschaften: Im Darm helfen sie uns bei der Verdauung, beherbergen aber auch allerlei Resistenzgene. Im Meer zersetzen sie Algen und verwerten dabei komplexe Zucker. Und im Süßwasserpolypen lässt sich ihr Zusammenspiel vergleichsweise einfach unter Laborbedingungen erforschen.


- Gedämpftes Mikrobiom

Forschung lebt von Enthusiasmus und freudiger Hoffnung auf neue Erkenntnisse. Auch Euphorie darf hin und wieder dazukommen. Aber da wird es bereits gefährlich. Schließlich gibt es Beispiele genug, wo anfängliche Euphorie über erklärtermaßen neue und grundlegende Erkenntnisse oder Technologien in einen regelrechten Hype umschlug.


- Findet die Fehler

Die Mikrobiom-Forschung nimmt Fahrt auf – doch in den Workflow schleichen sich schnell Fehler ein. Die Forscher-Gemeinschaft ruft daher nach einem Standard. Die Firma Zymo Research aus Freiburg versucht zu helfen.

 



Letzte Änderungen: 23.02.2021