Editorial

Wer hat hier eigentlich Talent?

(26.02.2021) Aus unserer Reihe 'Anekdoten aus dem Forscherleben': Wie ein Prof ein echtes Forschertalent zugunsten seiner Postdocs vergraulte. 
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Junge Talente. Wenn man sich so umhört, könnte man fast meinen, dass Wohl und Gedeih der Wissenschaft einzig von ihnen abhängen. Nicht zuletzt, da schon länger Programme zur Förderung besonders begabter Jungforscher wie Pilze aus dem feuchten Herbstboden schießen.

Das ist zwar sicher gut so, da gerade der wissenschaftliche Nachwuchs bis vor einiger Zeit doch arg vernachlässigt wurde – meist zugunsten der etablierten Platzhirsche. (Ganz abgesehen davon, dass er ja sowieso zu schlecht bezahlt wird.) Das Problem bei der ganzen Sache ist jedoch erstmal ein anderes: Bevor man Talent fördern kann, muss man es erkennen. Und zwar nicht erst, wenn jemand bereits seine ersten wissenschaftlichen Fußstapfen in irgendwelchen angesehenen Journalen hinterlassen hat. Nein, viel früher. Möglichst ganz am Anfang schon.

Editorial

Die Welt ist nicht ideal, Chefs schon gar nicht

In einer idealen Welt müsste Chef oder Chefin jeden „Neuankömmling“ im Labor gerade in den ersten Monaten ganz besonders begleiten. Denn wenn da mit den richtigen Leuten nicht die richtigen Dinge passieren, nimmt der begabte Nachwuchs ganz schnell sein Talent und geht woanders spielen.

Doch die Welt ist nicht ideal – Chefs oftmals schon gar nicht. Und so ereignen sich immer wieder Fälle wie der folgende:

Eine Master-Studentin kommt frisch ins Labor und beginnt ein neues Projekt. „Zum Antesten“, steckt der Chef einem Kollegen. „Wäre zu riskant für unsere Docs und Postdocs, die brauchen doch was Sicheres, mit Ergebnisgarantie.“

Kaum hat die Studentin die ersten positiven Ergebnisse, nimmt der Chef ihr jedoch prompt das Projekt ab und übergibt es einem Postdoc. „Der kriegt das schneller hin, hat ja auch mehr Erfahrung“, sagt er seinem Kumpel. "Außerdem braucht er dringend noch ein gutes Erstautor-Paper."

„Um der Wissenschaft willen“, sagt er der Studentin.

Fürchterliche Patchwork-Arbeit

Mit den Vorversuchen für das nächste "riskante" Projekt dasselbe: Die Studentin hat schnell erfolgversprechende Ergebnisse – und Postdoc Nummer 2 übernimmt. Und man mag es kaum glauben, aber das Muster wiederholt sich ein drittes Mal – sehr zur Freude von Postdoc Nummer 3.

Wer hier wirklich Talent hat, erkennt der aufmerksame Leser schnell – der „Chef“ offenbar nicht. Das Ende vom Lied: Der Master-Studentin bleibt nichts anderes übrig, als eine fürchterliche Patchwork-Arbeit zu schreiben – und macht hernach Karriere in der Software-Branche.

Und die drei Postdocs? Sind heute immer noch Postdocs.

Ralf Neumann

Foto: iStock / Imgorthand

(Die einzelnen Geschichten dieser Kolumne sind uns in aller Regel nicht genau so, aber doch sehr ähnlich referiert worden – oder selbst passiert.)

 

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Letzte Änderungen: 25.02.2021