Blutgruppen und Neandertaler
Ein Faktor dürften natürlich die Gene sein. So ging vergangenes Jahr ein Preprint durch die Presse, das die Blutgruppe A-Positiv mit einem hohen Risiko für schwere Verläufe in Verbindung bringt und der Blutgruppe 0 einen möglichen protektiven Effekt bescheinigt (medRxiv, DOI: 10.1101/2020.05.31.20114991). Eine im New England Journal of Medicine erschienene genomweite Assoziationsstudie bestätigte den Lokus des AB0-Systems als statistisch signifikant. Dieselbe Arbeit nennt noch ein weiteres mit COVID-19-Schweregrad assoziiertes Gencluster, nämlich auf Chromosom 3 (N Engl J Med, 383(16): 1522-34). Diesen Abschnitt haben sich dann auch Hugo Zeberg und Svante Pääbo näher angeschaut: Das hohe Risiko verdanken wir demnach einem 50 Kilobasen großen Stück Neandertaler-DNA, das in Asien 50 Prozent und in Europa 16 Prozent der Bevölkerung tragen (Nature, 587(7835): 610-2).
Zur Ehrenrettung unserer ausgestorbenen Schwesternspezies sei aber auch noch die aktuelle Publikation beider letztgenannter Autoren erwähnt: Der Neandertaler hat uns auf Chromosom 12 nämlich wohl auch ein gegen schwere COVID-19-Verläufe schützendes Erbe mitgegeben – auf einem Abschnitt, der für OAS-Proteine (2'-5'-Oligoadenylat-Synthetasen) codiert. Deren Expression wird induziert durch Interferone und doppelsträngige Virus-RNA. Es entstehen dann Enzyme, die doppelsträngige RNA abbauen (PNAS, 118(9): e2026309118).
Nun fehlen bei solchen Assoziationsstudien häufig Anhaltspunkte, über welche konkreten Mechanismen denn nun ein bestimmtes Risiko erhöht wird. Bei den OAS-Genen sieht man zwar einen Bezug zum Immunsystem und zur Virusabwehr, doch die RNA der Coronaviren ist ja einzelsträngig.
Natürliche Killerzeller
Ein Wiener Forscherteam um Elisabeth Puchhammer-Stöckl stellt nun Ergebnisse vor, die die natürlichen Killerzellen (NK-Zellen) in den Fokus rücken (Genet Med, DOI: 10.1038/s41436-020-01077-7). NK-Zellen sind Teil des angeborenen Immunsystems und bilden somit keine spezifischen Antikörper. Stattdessen binden sie an körpereigene Zellen, um gewissermaßen eine molekulare Ausweiskontrolle durchzuführen. Denn jede Körperzelle synthetisiert Proteine aus dem Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC). Für die Kontrolle durch die NK-Zellen relevant sind die MHC-Klasse-I-Moleküle. Diese MHCI-Proteine binden Proteinbruchstücke aus der Zelle und präsentieren diese nach außen hin auf der Zellmembran. Solange nur zelleigene Peptide gebunden sind, nimmt der Komplex gewissermaßen eine „ordnungsgemäße“ Konformation ein. In Tumoren oder in von Erregern befallenen Zellen gibt es aber auch körperfremde Peptide, die MHCI präsentiert. In diesem Fall wird eine angedockte NK-Zelle aktiv.
NK-Zellen wiederum tragen Rezeptoren, über die sie eines der MHCI-Moleküle erkennen. Zum Beispiel die Proteine NKG2C und CD94: Sie lagern sich aneinander und binden dann gemeinsam an das MHCI-Protein HLA-E. Normalerweise bleiben NK-Zellen inaktiv. Trägt HLA-E jedoch ein verdächtiges Antigen, etwa ein Virus-Peptid, so setzt die NK-Zelle Signale frei, die die Apoptose der überführten Zelle auslösen und weitere Immunzellen auf den Plan rufen.
Die erfolgreiche Bindung von CD94/NKG2C auf der Killerzelle an HLA-E auf der infizierten Zelle ist in diesem Beispiel also der Grund dafür, dass das Virus früh gestoppt wird. Nun gibt es neben HLA-E auch noch andere HLA-Proteine, zu denen andere NK-Zellen ebenfalls passende Rezeptoren bilden. Es hängt also nicht die gesamte Pathogenabwehr an diesen drei Molekülen. Tatsächlich exprimieren 4 Prozent der europäischen Bevölkerung überhaupt kein funktionsfähiges NKG2C. Und fast ein Drittel ist immerhin heterozygot für eine nicht-funktionelle NKG2C-Variante.
NKG2C-Ausfall
Die Forscher wollten nun wissen, ob die Verteilung dieser Genvarianten in Gruppen mit unterschiedlich schweren COVID-19-Verläufen verschieden ist. Angeschaut hatten sie sich den entsprechenden Genlokus bei 361 österreichischen Patienten, die in der Zeit von Februar bis April SARS-CoV-2-positiv getestet waren. Sie teilten ihre Probanden in drei Gruppen ein: Leichte Verläufe, die sich zu Hause auskurieren konnten; Patienten, die zwar ins Krankenhaus aufgenommen wurden aber ohne intensivmedizinische Behandlung auskamen; und Menschen mit schweren Verläufen, die intensivpflichtig wurden. Zur Kontrolle analysierten die Wiener auch DNA von 260 PCR-negativen Probanden.
Kontrollgruppe und Patienten mit mildem COVID-19-Verlauf unterschieden sich kaum in der Verteilung der Genotypen. In allen Gruppen war auch der Anteil der homozygoten Ausfallvariante gering. In Bezug auf die Heterozygoten hingegen gab es große Unterschiede zwischen den drei Fallgruppen: Nur 27 Prozent der Patienten mit leichtem Verlauf waren heterozygot für NKG2C. Bei der Gruppe mit Krankenhaus-Aufenthalt waren es schon 47 Prozent. Wer aber zusätzlich auf der Intensivstation lag, hatte mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen heterozygoten Genotyp.
Zusammenfassend berichten die Autoren über eine signifikante Präsenz des nicht-funktionellen Allels in jenen beiden Fallgruppen, die stationäre oder intensivmedizinische Behandlung brauchten. Außerdem hatten sie in diesen Gruppen einen höheren Anteil eines bestimmten HLA-E-Allels feststellen können. Diese HLA-E-Genvariante, so ordnen sie ihre Ergebnisse im Diskussionsteil ein, stehe laut In-vitro-Studien mit einer geringeren HLA-E-Dichte auf den Zellen in Verbindung.
Möglicherweise sind die natürlichen Killerzellen also ein Baustein im Mosaik, das die schweren Verläufe erklärt. „Dieser Teil der Immunantwort könnte daher auch ein wichtiger Angriffspunkt für Medikamente sein, die dabei helfen könnten, schwere COVID-19-Erkrankungen zu verhindern“, wird Senior-Autorin Elisabeth Puchhammer-Stöckl in der Pressemitteilung der Medizinischen Universität Wien zitiert.
Virtuelle Peptid-Affinität
Für Gene, die den Haupthistokompatibilitätskomplex codieren, interessieren sich auch Forscher aus Moskau und haben sich ebenfalls auf die MHC-Klasse-I fokussiert. Die insgesamt sechs unterschiedlichen HLA-Klasse-I-Proteine auf der Zelle interagieren nicht nur mit natürlichen Killerzellen, sondern sie präsentieren auch den T-Zellen Antigene und beeinflussen so die adaptive Immunantwort. Die russischen Autoren haben einen Risk Score erstellt, der voraussagen soll, welche Allele der drei Proteine HLA-A, B und C mit welchen Risiken für schwere COVID-19-Verläufe assoziiert sind (Front Immunol, DOI: 10.3389/fimmu.2021.641900).
Nun gibt es zu jedem HLA-Gen etliche Allele. Diese in ihrer Kombinatorik astronomische Vielfalt macht es ja so schwer, bei einer geplanten Transplantation ein immunologisch kompatibles Spenderorgan zu finden. Entsprechend konnten die Autoren auch nicht in statistisch aussagekräftiger Zahl einzelne Allele zu jedem HLA-Gen in Kohorten von COVID-19-Patienten analysieren. Stattdessen prognostizierten sie über ein Computermodell, mit welcher Affinität Proteinfragmente aus SARS-CoV-2 an einzelne HLA-Varianten binden. Für jede einzelne Aminosäure-Position der Virusproteine schätzte ein Algorithmus zunächst die Wahrscheinlichkeit ab, im Proteasom gespalten zu werden. Am Ende kamen mehr als 15.000 virale Peptide in Frage, deren Bindungsaffinität das Modell abschätzen musste.
Signifikant erhöht
Validiert hatten die Autoren ihre Voraussagen an 111 in Moskau verstorbenen COVID-19-Patienten. Sie hatten deren HLA-Genotypen bestimmt und das durch ihr Modell vorhergesagtes Risiko für einen schweren Verlauf ermittelt. Je jünger ein verstorbener Patienten ist oder je weniger bekannte Risikofaktoren vorliegen, desto eher sollte ein hoher Risk Score erreicht werden. Die Autoren berichten, der Risk Score sei signifikant erhöht gewesen in der Gruppe Erwachsener, die in einem Alter bis höchstens 60 verstarben. Insbesondere die Variante HLA-A*01:01 war demnach mit einem hohen Risiko assoziiert, während die Allele HLA-A*02:01 und HLA-A*03:01 auf ein geringeres Risiko für schwere Verläufe hindeuten.
Ernüchternd bleibt letztlich, dass es den einen greifbaren und alles entscheidenden Faktor wohl nicht gibt. Das Immunsystem ist einfach zu komplex für simple Antworten. Umso erstaunlicher, dass ein altbewährter Klassiker wie das entzündungshemmende Dexamethason vielen schwer Erkrankten wohl das Leben gerettet hat.
Mario Rembold
Bild: Pixabay/kostkarubika005
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Letzte Änderungen: 01.03.2021