Zukunftsvision oder Sackgasse?
(23.03.2021) Die Schattenbibliothek Sci-Hub ist einigen Verlagen ein Dorn im Auge. Bietet sie eine echte Alternative zum derzeitigen Publikationswesen?
Dem Beginn des World-Wide-Web-Projekts vor dreißig Jahren am CERN in Genf lag eine klare Absicht zugrunde: akademische Information frei zugänglich machen. Wissen sollte unmittelbar für jeden verfügbar sein und so den Erkenntnisgewinn beschleunigen. Eingetreten ist bis heute das Gegenteil. Das Internet hat den Transfer von Forschungsergebnissen zwar automatisiert und die Platzbeschränkungen in Fachzeitschriften vergessen lassen. Dennoch beuteln die Wissenschaftsverlage das gesamte Publikationswesen. Seit zwei Jahrzehnten setzen sie jährliche Preissteigerungen durch. Und digitale Inhalte verschärfen diese Entwicklung noch, da sich das kommerzielle Produkt „Forschungsartikel“ virtuell leichter kontrollieren und regulieren lässt.
Für akademische Schwarzkopien ist das Projekt Sci-Hub der freiberuflichen Web-Programmiererin Alexandra Elbakyan die weltweit umfangreichste Schattenbibliothek. Frustriert von den Bezahlschranken des Wissenschaftsbetriebs in ihrer Heimatstadt Almaty, Kasachstan, rief Elbakyan Sci-Hub im September 2011 ins Leben. Doch stärker als andere Schattenbibliotheken sucht Elbakyan die Öffentlichkeit und propagiert aktiv einen „Guerilla Open Access“.
Evolution verzögert
In einer Online-Umfrage von 11.000 Personen war ein Download von raubkopierten Artikeln für 88 Prozent in Ordnung; 59 Prozent gaben an, sich bereits in Schattenbibliotheken bedient zu haben. Offensichtlich gewichtet die Mehrheit freien Wissenszugang höher als die Verwertungsinteressen von Wissenschaftsverlagen. Denn im Gegensatz zu Musik- und Filmschaffenden haben wissenschaftliche Autoren keine kommerziellen Interessen.
Paradoxerweise zögert Sci-Hub jedoch die Evolution des Verlagswesens hinaus, da es die Versorgungsengpässe lindert, die Preprints und Open-Access-Journale ja zu lösen versuchen. Dank Sci-Hub baut die Wissenschaftsgemeinde weniger Druck auf die Zeitschriftenkonzerne auf, ihre Subskriptionsmodelle abzuschaffen und die Gebühren zu verringern (arXiv, 2006.14979v2).
Zudem hilft das Robin-Hood-Angebot zwar dem Einzelnen, bringt Open Access im Allgemeinen aber in Verruf. Verlagsriesen nutzen die Verwirrung über die Legalität frei verfügbarer Angebote, verweisen auf ihre erfolgreichen Urheberrechtsklagen gegen Schattenbibliotheken und reagieren härter auf Open-Access-Bestrebungen. Illegales Open Access lässt Wissenschaftsverlage klagen, legales Open Access bringt sie an den Verhandlungstisch.
Ungelöste Problme
Sci-Hub löst auch nicht das ursächliche Problem des Verlags-Oligopols auf wissenschaftliche Reputation. Das Ansehen von Forschern bemisst sich weiterhin an ihrer Publikationsleistung in Fachzeitschriften mit hohem Impact-Faktor. Sci-Hub bietet ihnen keinen Anreiz, direkt im Open Access ohne Verlagsbeteiligung zu veröffentlichen. Aus Selbstschutz springen nur die wenigsten aus dem Hamsterrad.
Vor allem aber stellt Sci-Hub weder qualitativ hochwertige Publikationen sicher, noch die Maschinerie des Peer-Review-Prozesses in Frage. Obwohl Zeitschriftenkonzerne ihre Autoren, Gutachter und Herausgeber finanziell übervorteilen, hat ihre Tätigkeit doch einen Preis. Denn ihre Redakteure, Lektoren, Graphikdesigner, Plagiatswächter, Wissenschaftsjournalisten, Presseabteilungen und Webdesigner stellen das Verlegen, den Vertrieb und die Bewerbung wissenschaftlicher Information sicher. Diese Zehntausende von Mitarbeitern in über fünfzig Ländern müssen entlohnt werden.
Für diesen Aufwand jedoch hat Elbakyan wenig Verständnis: „Auf meiner Webseite kann jeder Publikationen kostenlos lesen und aus freien Stücken mit anonymen Spenden zum Projekt beitragen. Warum kann Elsevier nicht auch ohne Bezahlschranken funktionieren?“ Ihre Einstellung zum wissenschaftlichen Verlagswesen ist so geradlinig wie pragmatisch: „Setze die Wissenschaft frei, lass den Informationsfluss ohne rechtliche Hindernisse wie das Urheberrecht zu und warte einfach, bis sich das beste Open-Access-Modell von allein entwickelt!“
Das Warten auf einen Plan
Laut Elbakyan würde solch ein „wissenschaftlicher Kommunismus“ den Erkenntnisfortschritt merklich beschleunigen. In diesem marxistisch-leninistischen Konzept werden Informations- und finanzielle Ressourcen unvoreingenommen und gleichmäßig verteilt. Wie sie die Qualität von Publikationen und die Reputation von Wissenschaftlern darin gewichten würde, beantwortet Elbakyan nicht: „Denn der Stolperstein auf dem Weg zu Open Access besteht darin, auf einen detaillierten, staatlich gestützten Plan zu warten, wie Wissenschaft ohne Kontrolle durch Verlage funktionieren könnte. Das beste System kann der menschliche Verstand jedoch nicht berechnen – vor allem nicht, solange uns der gegenwärtige Status quo des Verlagswesens einengt. Solange wir darauf warten, wird Wissenschaft niemals frei sein. Wir müssen den Sprung ins Ungewisse wagen!“
Ob nun Befreiungsschlag oder kontrollierte Reform – erst wenn Sci-Hub aus dem Schatten tritt, wird es sein eigentliches Potenzial entfalten. Als Mehrwertdienst könnte es zum Beispiel spezifische Information in seiner riesigen Datenbank auffinden und deren Bedeutung automatisiert erschließen. Es könnte sogar das Herzstück eines reformierten Publikationswesens werden, in dem beispielsweise Universitäten nicht-kommerzielle Open-Access-Angebote verlegen und die heutige Mitarbeiterschaft von Wissenschaftsverlagen beschäftigen. Dadurch würde Sci-Hub den Erkenntnisgewinn nochmals beschleunigen. Denn Elbakyan hat recht: „Sci-Hub bleibt! Kostenlose Online-Datenbanken mit wissenschaftlicher Literatur verschwinden nicht, sobald sie legal oder Verlagsdatenbanken frei sind. Es wird mehr von uns geben!“
All das steht und fällt mit der Frustrationsgrenze der Wissenschaftsgemeinde.
Henrik Müller
Dieser hier gekürzte Artikel erschien in ausführlicher Form zuerst in Laborjournal 3-2021.
Bild: Sci-Hub