Editorial

Max Delbrück zum Hundertsten

Max Delbrücks berühmte Phagenschule gilt als die Keimzelle der Molekularbiologie. In diesem Jahr wäre er 100 Jahre alt geworden. Fritz Melchers zeigt auf persönliche Weise, dass Delbrücks Geist der modernen Bioforschung immer noch viel geben kann.

(22.11.2006) Am Montagmorgen, dem 13. Oktober 1969 um 5.25 Uhr klingelte bei der Familie Delbrück in der Oakdale Street 1510 in Pasadena in Kalifornien das Telefon. Das Nobelkomitee des Karolingischen Instituts in Stockholm gratulierte Max Delbrück zum Nobelpreis für Physiologie oder Medizin des Jahres 1969, der ihm zusammen mit seinem Kollegen Salva(dore) Luria und Alfred Hershey gerade verliehen worden war. Die drei Forscher waren für ihre Arbeit ausgezeichnet worden, die sich mit dem Mechanismus der Replikation und mit der genetischen Struktur von Viren beschäftigt hatte.

"Die Entdeckungen", so das Nobelkomitee, "erlauben zuerst einmal eine tiefere Einsicht in die Natur von Viren und Viruserkrankungen. Indirekt erbringen sie auch ein vermehrtes Verständnis von Vererbung und von solchen Mechanismen, die die Entwicklung, das Wachstum und die Funktion von Geweben und Organismen kontrollieren. Die Arbeit der drei, auf Bakteriophagen zentriert, hat seit 1940 großen Einfluss auf die Biologie im Allgemeinen gehabt. Über die Jahre hat unsere Schuld des Dankes an die drei führenden Gestalten der Bakteriophagenforschung kontinuierlich zugenommen."

Aus der Laudatio wird deutlich, was alle Forscher in dem neu entstandenen Gebiet zwischen Physik, Chemie, Zoologie, Botanik, Entwicklungsphysiologie, Biochemie, Biophysik, Mathematik, Informatik und Genetik -- nämlich in Molekulargenetik -- dachten, der Preis war längst überfällig. Hoch verehrt für Jahrzehnte ohne alle Preise hatte Max Delbrück endlich seine "Unschuld" verloren, die er durch stetiges "Desinteresse" an eitlen Lobpreisungen seiner Arbeit und seines Wirkens gepflegt und erhalten hatte.

Delbrücks Antwort auf einen Journalisten, der ihn am selben Tag bei einer einberufenen Pressekonferenz am Caltech in Pasadena nach seinen ersten Gedanken fragte: "Diese Leute in Stockholm sollten sich klarmachen, dass eine Zeitdifferenz von neun Stunden zwischen Schweden und Kalifornien besteht. Es ist eine schreckliche Sache, einen Menschen anzurufen, bevor er gefrühstückt hat." Auf dem Extrablatt des California Tec vom 17. Oktober zur Preisverleihung, das er meiner Frau und mir schickte, schrieb er als Gruß: "Liebe Freunde! Kein Grund zur Aufregung! Das Wetter ist vorzüglich, große Forschritte im Tennis zu verzeichnen. Übe mich täglich für neue Rolle als Fernsehstar -- Max und Manny". Manny, das war seine seit 1941 mit ihm verheiratete Frau.

Etwas ernster war er schon, als er sagte, dass er sehr glücklich sei, den Preis mit seinen Freunden zu teilen. Delbrück: "Ich glaube, dass von uns dreien Hershey den Preis am meisten verdient. Er hat die wichtigsten Experimente gemacht."

Noch ernster wurde er, als er sagte, dass er die Hälfte seines Preisgeldes der "Amnesty International" stiften werde. Bei der fast gleichzeitig erfolgten Verleihung des Louisa Gross Horwitz Preises an der Columbia University in New York machte er das gleiche mit dem dortigen Preisgeld, und sagte dabei als Begründung für diese Stiftung :

"In meinem Fall fühle ich, dass ich mein Leben als ein Wissenschaftler der Tatsache verdanke, dass ich während der Nazizeit nicht in Deutschland blieb, um in der einen oder anderen Form am Widerstand teilzunehmen. Viele taten das und zahlten mit ihrem Leben. Es ist im Gedenken an diese Gefangenen aus Gewissensgründen, und als eine Schuld gegenüber diesen Gefangenen aus Gewissensgründen, dass ich Amnesty International unterstützen will. Die Suche nach der Wahrheit ist eine vielseitige Sache. Wissenschaft ist eine von ihnen."

"Wenn die Gesellschaft ihre Schuldigkeit gegenüber Wissenschaftlern mit Preisen verdeutlicht, dann erscheint es mir, kann der Wissenschaftler auch seine Schuldigkeit gegenüber der Gesellschaft ausdrücken -- gegenüber einer Gesellschaft, die ihm die Suche nach Wahrheit in einem Leben erlaubt, dass ungewöhnlich frei von den Beschränkungen ist, die den meisten Mitgliedern dieser Gesellschaft auferlegt sind."

Delbrück sagte, er werde mit seiner Frau nach Stockholm zur Preisverleihung fahren. Danach beabsichtige er, nach Moskau zu fahren, um einen alten Freund aus Berliner Zeiten, Dr. Timofeeff-Ressovsky, zu besuchen. Das letztere sagte er, weil er wusste, dass Timofeeff-Ressovsky 1945 beim Einmarsch der Russen in Berlin festgenommen, als "Deserteur" in ein Arbeitslager gebracht worden war, als "klassischer Genetiker" von Lysenko verachtet und verfolgt worden war -- und auch im Jahre 1969 immer noch nicht voll rehabilitiert worden war.

Am Ende der Pressekonferenz zitierte Delbrück aus einem japanischen Gedicht: "Die Glocke des Tempels ist das Echo der Vergänglichkeit aller Dinge. Stolz dauert nur eine kleine Weile."

Was hat Max Delbrück entdeckt?

Wenn ich Ihnen jetzt erkläre, welche Entdeckungen Max Delbrück gemacht hat, die zu diesem Nobelpreis führten, dann müssen Sie wissen, das ich das im Delbrück`schen Stil versuchen werde; in der Sprache des Landes, also auf deutsch, ohne Diapositive und Power point, und so allgemeinverständlich wie möglich.

Max Delbrück hat zusammen mit Emory Ellis gemessen, wie aus einem einzelnen Bakterienvirus (auch "Bakteriophage" genannt, da das Virus die Bakterienzelle zerstört, "frisst") innerhalb von 20 Minuten in einer einzelnen Bakterienzelle ein Wurf von etwa 60 identischen Kopien des Virus wird. Und er hat, zusammen mit Salvadore Luria, entdeckt, dass eine in 240 Millionen Bakterienzellen nicht mehr empfänglich für die Virusinfektion ist, sondern dagegen resistent wird. Die beiden haben durch quantitative Analysen der Entstehung dieser Virusresistenz in Bakterien, so genannten "Fluktuationsanalysen", gezeigt, dass die Resistenz nicht durch Adaptation an das Virus, sondern durch spontane Mutation im Bakteriengenom von Empfänglichkeit zu Resistenz entsteht.

Ich werde Ihnen jetzt, ganz kurz und sehr vereinfacht, diese beiden Grundexperimente erklären, die die Delbrück'sche Phagenschule begründeten. Dazu werfe ich 4 Bälle (Viren) in die Zuhörer (Bakterien). Die vier Personen, die die Bälle gefangen haben, sind also empfänglich für die Viren. Sie nehmen den Inhalt dieser Viren auf, also Gene auf, die sich in 20 Minuten zu etwa 60 Viren vermehren. Die Bakterien, also unsere 4 Zuhörer, platzen und schütten damit diese neu produzierten Viren (Bälle) über ihre Nachbarn. Die dann wiederum diese Viren einfangen, aufnehmen und vermehren. Auch sie platzen nach weiteren 20 Minuten.... Sie sehen schon: am Ort der ursprünglichen Infektion entsteht ein Loch von geplatzten Zuhörern -- das nannten die Phagenforscher einen Plaque. Damit kann man also EIN Virus zählen. Das haben Ellis und Delbrück getan.

Spätestens an dieser Stelle hätte Max Delbrück vielleicht unterbrochen: "Bisher habe ich kein Wort verstanden. Bitte fang noch einmal von vorne an. Und, bitte, mache aus einem Satz dreie." Je bekannter, berühmter der Vortragende war, desto lieber unterbrach er.

Jetzt werfe ich 4 größere Bälle (Bakterien, virus-empfänglich, blau) in die Zuhörer (Viren). Die vier Zuhörer, die den Ball gefangen haben, können sich jetzt als Starter einer Bakterienvermehrung betrachten. Nehmen Sie an, Sie gehen jetzt in das Olympiastadium. Dort beginnt sich Ihr Bakterium alle 20 Minuten zu teilen Nach jeweils 20 minütiger Teilung der 4 Bakterien (1, 2, 4, 8, 16, 32, ...) entstehen in etwa 10 Stunden 4 Kolonien mit je etwa einer Million Bakterien. Diese Million Bälle würden das Olympiastadium übrigens in einer Höhe von etwa 100 Metern gefüllt haben. Nun exponieren wir diese 4 Kolonien von Bakterien, also eigentlich vier separate 4 Olympiastadien mit unseren Viren und fragen, ob es Bakterien in diesen Kolonien gibt, die NICHT von den Viren infiziert werden, und folglich nicht platzen, sondern überleben. Wenn die Bakterien durch den Kontakt mit den Viren "lernen", resistent zu werden, sich also an die Viren anpassen (adaptieren) dann sollte jede Kolonie etwa dieselbe Anzahl resistenter Bakterien haben. Wenn die Eigenschaft, resistent zu sein, aber durch Zufallsmutation zu irgendeinem Zeitpunkt, das heißt nach der ersten, zweiten, dritten oder einer späteren Teilung in der Kolonie entstehen kann, dann sollte die Zahl der resistenten Bakterien von Kolonie zu Kolonie sehr große Unterschiede aufweisen. Und letzteres fanden Luria und Delbrück. Also wird die Eigenschaft, resistent gegen Virusinfektion zu werden, nicht durch Adaptation, sondern durch Mutation erworben.

An diesem Ende meiner Erklärungen hätte Max Delbrück wahrscheinlich gesagt: "Das war der schlechteste wissenschaftliche Vortrag, den ich jemals gehört habe".

Nach diesen Entdeckungen hat Max Delbrück eine Schule der Bakteriophagenwissenschaft, die Phagengruppe, gegründet, einen Phageninformationsdienst geschaffen und ein Phagenabkommen geschlossen, in dem sich die teilnehmenden Wissenschaftler verpflichteten, nur an T1, T2, T3, T4, T5, T6 und T7 Phagen und nur mit dem Bakterienstamm Escherichia coli B zu arbeiten -- damit alle Ergebnisse reproduzierbar und vergleichbar wurden. Er hat damit, im wahrsten Sinn des Wortes, berechenbar, quantifizierbar gemacht, was wir heute als die Grunderkenntnisse der molekularen Biologie der Vererbung kennen. Er hat die Grundsteine zu der explosiven Revolution in der Biologie gelegt, die uns gelehrt hat, die Struktur und Funktion der Gene in der Vielfalt von Leben, so in Viren, Bakterien, Parasiten, Insekten, Pflanzen, Fischen, Säugetieren und dem Menschen zu begreifen. Und das Bakterium E. coli B ist zum Arbeitstier der Biotechnologie geworden.

Ein Leben für die Naturwissenschaft -- ein Physiker auf dem Weg in die Biologie

Max Delbrück wurde heute vor 100 Jahren in Berlin als Sohn des bekannten Historiker Professor Hans Delbrück und seiner Frau Lina in eine der ganz feinen preußischen Familien des Kaiserreichs und der nachfolgenden Weimarer Republik geboren. Er studierte von 1926 bis 1929 Physik, zuletzt von dem damals in Göttingen so exzellent vertretenen neuen Gebiet der Quantenmechanik angezogen.

Nach seiner -- übrigens einmal gescheiterten -- Promotion im Jahre 1931 in Göttingen als theoretischer Physiker bei Walter Heitler, dem Assistenten von Max Born, war der von seinen Göttinger Lehrern als Hochbegabter Gepriesene mit einem Rockefeller-Stipendium zu Niels Bohr -- und damit in das Mekka der Atomphysik -- in Kopenhagen gegangen. Nach Born in Göttingen, der auf alles eine Antwort wusste, fand er Bohr, der ständig Fragen stellte. Nach einem distanzierten Born -- wie es auch sein unnahbarer Vater war -, fand Delbrück einen väterlich besorgten, zuhörenden, nahbaren Bohr. In der für Max Delbrück so entscheidenden Vorlesung am 15. August 1932 über "Licht und Leben" schlug Bohr vor, dass es -- ähnlich wie in der Atomphysik, in der ein Elektron entweder als Welle oder als Korpuskel, aber nie als beides gesehen werden kann -- auch in der Biologie eine solche "Komplementarität" der Standpunkte der Beobachtung geben könnte. Er sagte in seinem schwer verständlichen Gemisch aus Englisch, Deutsch und Dänisch, meist flüsternd (wie ich es selbst einmal bei der Einweihung des Instituts für Genetik in Köln erlebt habe):

"So würden wir zweifellos ein Tier töten, wenn wir versuchten, eine Untersuchung seiner Organe so weit durchzuführen, dass wir den Anteil der einzelnen Atome an den Lebensfunktionen angeben könnten. In jedem Versuch an lebenden Organismen muss daher eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die physikalischen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, bestehen bleiben. Und es drängt sich der Gedanke auf, dass die geringste Freiheit, die wir in dieser Hinsicht den Organismen zugestehen müssen, gerade groß genug ist, um ihnen zu ermöglichen, ihre letzten Geheimnisse gewissermaßen vor uns zu verbergen." (Dem kann ich als Immunologe nur ergänzend beipflichten, dass selbst ohne die Tötung eines Tieres die Beobachtung der Zellen des Immunsystems diese notwendigerweise immer verändern muss, so dass der unbeobachtete Zustand des Systems unbeschreibbar bleiben muss). Dieser erste Aufenthalt bei Niels Bohr in Kopenhagen, dem noch mehrere andere bis zu seinem Umzug in die USA folgten, begründete in dem Physiker Max Delbrück den Wunsch, in der Biologie nach der "elementaren Tatsache des Lebens" zu suchen.

Im heute nach Niels Bohr benannten Institut für theoretische Physik in Kopenhagen fand Max Delbrück einen Geist der Wissenschaft, wie er ihn in Deutschland nie erlebt hatte: die Teamarbeit auf freier Mitarbeiterbasis. Junge und ältere Wissenschaftler aus vielen Ländern arbeiteten, sozusagen ohne Chef, in eigener Verantwortung an eigenen oder gemeinsamen Projekten - wohl wissend, dass der Einzelne zu schwach für die Bearbeitung der meisten Probleme war. Sie waren deshalb "gezwungen", als Gleichberechtigte zu kollaborieren. Es waren besonders die Russen, und unter ihnen Georg Gamow (mit dem er sich anfreundete), die in guter anarchischer Tradition mit fröhlicher Respektlosigkeit die menschlichen Beziehungen, wie auch die wissenschaftlichen Arbeiten offen und ehrlich anzweifelten, und Wissen und Intelligenz, aber nicht Stellung und Amt gelten ließen. Sie waren alle "Chiefs, no indians" -- auf Deutsch alle Häuptlinge, keiner ein untergebener Indianer.

Niels Jerne, der berühmte Immunologe und Schüler des Kopenhagener Geists und von Max Delbrück, hat diesen Geist der Wissenschaft im Basler Institut für Immunologie 1970 bei seiner Gründung eingeführt, und ich habe, obwohl ich leider zu jung war, um noch das Institut in Kopenhagen erleben zu können, den selben Geist weitergepflegt, den ich durch Max Delbrück in Köln (1961-1964), Edwin Lennox in La Jolla (1965-1968), Thomas Trautner in Berlin (1968-1971) und Niels Jerne in Basel (1971-1980) miterlebt hatte.

Nach seiner Rückkehr vom ersten Kopenhagener Aufenthalt wurde Max Delbrück Assistent von Lise Meitner am Kaiser Wilhelm Institut für Physik bei Otto Hahn. Er hat seine Tätigkeit dort ein wenig selbstkritisch beschrieben -- er war der Meinung, dass er als "Haus- und Hofmathematiker und -theoretiker" mit seinen falschen Berechnungen die Entdeckung der Atomspaltung verfehlte, und so um mehrere Jahre verhinderte. Er hat sich auch später oft geirrt -- und das mit einem gewissen Stolz auch immer zugegeben.

Seine neue Liebe zur Biologie pflegte er in Berlin durch Kontakte zu den nahe benachbarten Kaiser Wilhelm Instituten für Biologie und für Physiologische Chemie, und das am anderen Ende der Stadt liegende Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch -- dort, wo wir heute das Max Delbrück Zentrum für Molekulare Medizin finden.

Natürlich kannte Max Delbrück die Mendelschen Gesetze der Vererbung von Genen, und Thomas Hunt Morgans Identifizierung der Chromosomen als Orte in den Zellkernen, in denen diese Gene lokalisiert worden waren. Aber die DNA als Träger der Erbsubstanz war noch längst nicht entdeckt worden. Er kannte auch die Arbeiten der Virusforschungsgruppe, in der Schramm und Friedrich-Freksa vom Institut für Physiologische Chemie mit dem Pflanzenphysiologen und -genetiker Georg Melchers, meinem Vater, am Tabakmosaikvirus arbeiteten. Was Max Delbrück sicher frustrierte, war, dass man die Viren, die mein Vater zur Vermehrung auf Tabakblätter rieb, nicht zählen konnte. Einen Plaquetest gab es nicht.

Max Delbrück kannte auch Richard Goldschmidts Arbeiten zu extrachromosomaler Vererbung von Eigenschaften, dessen Vorstellung, dass einige Gene nicht "mendeln" und vielleicht im Cytoplasma und nicht im Kern vorliegen, dazu vielleicht nicht nur als 2 Kopien von Vater und Mutter, sondern als mehrere Kopien von Zelle zu Zelle, von Organismus zu Organismus übertragen werden. Gamow und Timofeeff-Ressovsky hatten ihm sicher auch von Trofim Lysenko und seinen umstrittenen Vernalisationsversuchen zur Verbesserung der Pflanzenzüchtung in der Sowjetunion erzählt, die von 1932 bis 1937 mehr und mehr zu einem politisch-motivierten Streit zwischen Lysenko und Vavilow wurde -- Lysenko, der "Lamarkist", der die vererbbare Adaptation an einen bestimmten Umwelteinfluss wie z.B. Kälte oder Tageslicht vertrat, und Vavilow, der "Klassische Genetiker", der spontane Mutationen von "mendelnden" Genen, gefolgt von geeigneter Selektion der neuen Eigenschaften als Basis für Pflanzenzüchtung verfolgte. Und sicherlich kannte Max Delbrück auch das Kaiser Wilhelm Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, das nazistisch gefärbte Forschungsprogramme zur "Züchtung besserer Menschen" verfolgte.

Die frühe Erziehung in einem preußisch-protestantischen Elternhaus mit einem politisch liberalen, in der Weimarer Demokratie engagierten Vater, seine frühen Freunde, besonders Karl Friedrich Bonhoeffer, wie auch die Kontakte zu einer politisch ausgebeuteten, verführten Pflanzen- wie Menschengenetik müssen Max Delbrück in seiner Überzeugung nur noch bestärkt haben, wie sie im Evangelium des Johannes zu finden ist: "Die Wahrheit wird Euch freimachen". Auf diesem Hintergrund kann man auch erahnen, wie sehr ihn das Ergebnis seiner späteren Arbeit mit Luria befriedigt, ja begeistert haben muss, das er die neu erworbene Eigenschaft eines Bakteriums, virus-infektions-resistent zu werden, als eine Folge einer Mutation eines "mendelnden" Gens, und nicht einer Adaptation an eine Virusumwelt bewies.

Zwischen 1932 und 1937 nutzte Max Delbrück die Gastfreundschaft seines Elternhauses im Grunewald, sich in stundenlangen Diskussionen mit Biologen, Physikern und Mathematikern mit seiner neuen Liebe "Biologie" anzufreunden. Nach einem langen Vortrag von Timofeeff-Ressovsky, dem wissenschaftlichen Mitglied mit Fachgebiet Genetik am Berlin-Bucher Institut für Hirnforschung, begann deren Zusammenarbeit mit einer quantitativen Analyse der Mutationshäufigkeit bei der Taufliege Drosophila melanogaster in Abhängigkeit der Strahlungsintensität von Röntgen- und Gammastrahlen. In der so berühmt gewordenen Dreimännerarbeit von Timofeeff-Ressovsky, Zimmer und Delbrück (dem "grünen Pamphlet") ist eine zehnfach zu große Abschätzung der Größe eines Gens zu finden -- und dort steht der berühmte Satz: "Wir stellen uns das Gen als einen Atomverband vor, innerhalb dessen die Mutation als Atomumlagerung oder Bindungsdissoziation ablaufen kann." Diese Arbeit inspirierte Ernst Schrödinger 1946 in seinem Buch "What is life" zu der Voraussage, dass ein Gen ein Molekül mit aperiodischer Struktur sein müsste, das bei Mutation Quantensprünge machen könnte. Er nannte es das "Delbrück Modell" des Gens. Eine Generation von Physikern wurde dadurch beeinflusst, in die Biologie zu gehen -- und Max Delbrück war das große Vorbild.

Mit der "Dreimänner-Arbeit" gelang es Max Delbrück, 1937 ein zweites Rockefeller Stipendium zu bekommen, mit dem er für ein Jahr zu Thomas Hunt Morgan am California Institute of Technology (Caltech) gehen durfte. Ich kann mir gut vorstellen, welch überwältigenden Eindruck Pasadena im sonnigen, blumenreichen, von Palmen umsäumten und Eukalyptusbäumen duftenden Kalifornien gemacht haben muss -- die Berge, die im Frühjahr blühende Wüste, der Pazifik mit seinen spektakulären Sonnenuntergängen. Auch bei meiner Ankunft dort im Jahre 1965 überwältigte es mich als ein bisher nicht gekanntes Paradies. Und es muss ihm ähnlich wohl geworden sein, mit seinem Vornahmen "Max" angesprochen zu werden -- so wie es mir bei meinem ersten Hausvermieter erging, der auf meine Vorstellung als "Dr. Melchers, Sohn des Vaters Georg und der Mutter Lore aus feinen Familien", mich unterbrach und sagte: "My name is Ted. Do you have a first name -- and what do you do?" Mit diesem "Fritz" und "Max" war die Erwartung verknüpft, einen Menschen mit seiner eigenen Gestalt und Verantwortung zu treffen. Also ist der amerikanische Gebrauch des Vornamens nicht zu verwechseln mit dem vertraulichen deutschen "Du". Es ist ein "Sie", aber eben an "Max", nicht an "Herrn Professor Delbrück" .

Am Caltech hatte Max Delbrück den Versuch unternommen, die Daten der dort gemachten Chromosomenanalysen -- also Analysen der Orte, an denen die Gene lokalisiert worden waren -- quantitativ und mathematisch zu behandeln. Das misslang, und es war ein großer Glücksfall, dass Max Delbrück im Kellergeschoß des Kerkhoff-Gebäudes Emory Ellis traf, und bei ihm die Bakteriophagen kennen lernte. Es muss Max Delbrück sofort klar geworden sein, dass er -- im Gegensatz zum Tabakmosaikvirus in Berlin -- einzelne Phagen und deren Abkömmlinge zählen konnte. Damit hatte er das Handwerkszeug für eine quantitative Analyse von Genen gefunden. Die Rockefeller Foundation verlängerte sein Stipendium um ein weiteres Jahr und Thomas Hunt Morgan ließ ihn an Phagen weiterarbeiten, auch nachdem Ellis seine Studien aus Geldmangel abbrechen musste. Es wird oft behauptet, Max Delbrück habe selbst keine Experimente gemacht -- und er selbst hat diese Meinung durch Kommentare noch unterstützt. Allerdings kann kein Zweifel daran bestehen, dass er von 1938 bis 1942 mit eigenen Händen Phagenexperimente machte, mit denen er die "Blackbox Virus-Bakterium" eichte. Es war wirklich eine einzige Person, Max Delbrück, in den ersten Jahren, und dann eine Handvoll Phagenbegeisterter, die eine Riesenexplosion von Entdeckungen einleiteten. Das sollte auch heute bei der Planung von Exzellenzclustern und Elitenetzwerken nicht vergessen werden.

In sieben Jahren als Lektor in Physik von 1941-1947 an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, war er in der Lage, in seiner "Freizeit" diese Phagenforschung zu betreiben. In den Sommermonaten dieser Jahre zog er nach Cold Spring Harbor, wo er seine Zusammenarbeit mit Salvadore Luria begann, wo dann die Phagen Meetings stattfanden und wo schließlich die Phagengruppe gegründet wurde. Es ist bemerkenswert, dass Luria (der in Bloomington in Indiana arbeitete) und Max Delbrück zusammenarbeiten und dabei, über weite Strecken physisch getrennt, mit Postkarten Informationsaustausch betrieben.

1947 kehrte Max Delbrück -- für den Rest seines Lebens -- als Professor der Biology Division an das Caltech zurück, um in den selben Kellergewölben, in denen er seine ersten Phagenversuche mit Ellis gemacht hatte, seine Phagengruppe im Kopenhagener Niels Bohr-Stil aufzubauen. Als die Phagenforschung populär geworden war, hörte Delbrück damit auf. Er widmete sich danach der Erforschung des Pilzes Phycomyces und dessen Verhalten auf Lichtreize. Nur zweimal verließ er für längere Zeit sein Kalifornisches Paradies; beide Male, um in Deutschland (erst in Köln, dann in Konstanz) der modernen Genetik mit auf die Sprünge zu helfen. Ich selbst hatte das große Glück, in der Zeit in Köln zu promovieren, in der Max Delbrück Direktor des Instituts für Genetik war. Er infizierte mich mit dem Kopenhagener Geist der Wissenschaft.

Max Delbrück fand die Biologie in Deutschland über weite Strecken altmodisch, festgefahren, dem Neuen gegenüber verschlossen. In seinem Vortrag "Über Vererbungschemie" sagte er: "Ich glaube nicht, dass die Korrektur dieser Misslichkeiten eine Geldfrage ist. Die Biologie ist zwar teurer als zu Zeiten, als das Lichtmikroskop noch das A und O der Instrumentierung für den Biologen war, aber sie ist immer noch billig im Vergleich zur Physik -- und das teuerste an ihr ist der Zopf."

Ich denke, dass das leider auch heute noch gilt. Nur, dass jetzt auch viele Molekularbiologen Zöpfe tragen.

Die Ethik der Delbrück'schen naturwissenschaftlichen Forschung

Die vier Imperative, nach denen Max Delbrück, und wenn Sie so wollen, die ganze Niels Bohr'sche Abstammungslinie von Kopenhagen über Berlin, Pasadena, Köln und Basel in der Wissenschaft gewirkt hat, sind im Jahre 1942 von Robert K. Merton in seinem Aufsatz "Die Soziologie der Naturwissenschaften" beschrieben.

Imperativ 1: Universalismus -- er definiert die universelle Gültigkeit von Erkenntnissen der Naturwissenschaft.

Was in Brünn von Mendel entdeckt wurde, gilt auch in der Sowjetunion. Was von Luria und Delbrück als Mutation zur Virusinfektionsresistenz in Nashville entdeckt wurde, gilt auch an allen anderen Stellen der Welt.

Imperativ 2: Kommunismus -- Alle Entdeckungen und Erkenntnisse gehören allen Menschen.

Wissenschaft ist das Produkt sozialer Zusammenarbeit. Das "Eigentum" des einzelnen Forschers an diesen Entdeckungen und Erkenntnissen ist zumindest sehr weitgehend eingeschränkt. Die Bakteriophagen T1 bis T7 und das Bakteriums E. coli B und alle Ergebnisse gehören allen.

Ich betrachte Max Delbrück als meinen zweiten, zu Hans-Georg Zachau alternativen Doktorvater. Ich werde nie vergessen, was mich nach Wissenschaft süchtig machte: die Entdeckung der Kleeblattstruktur der Transfer-RNA. Und ich werde nie vergessen, was Max Delbrück sagte, als ich ihm meine Doktorarbeit mit dieser Struktur überreichte und ihm dabei sagte, er dürfe darüber aber noch nicht reden, weil die Arbeit noch nicht veröffentlicht sei. Er schob mir die von ihm schon signierte Kopie über den Tisch zurück und sagte: "Dann nimm sie lieber wieder mit. Denn was immer Du mir sagst und zeigst, solltest Du als veröffentlicht betrachten". (Whatever you tell me -- consider it published).

Imperativ 3: Desinteresse -- es erwartet die Trennung der wissenschaftlichen Suche und Erkenntnis von der praktischen Nutzung der Ergebnisse.

Ein besonderes Interesse (negativ z.B.als Lysenkoismus, positiv z.B. als der Wunsch für Heilung einer Krankheit) sollte die Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen und Erkenntnissen nicht beeinflussen. Es wird kein politischer oder medizinischer oder industrieller Nutzen von T-Bakteriophagen und E. coli B Bakterien, und auch kein Preis angestrebt.

Imperativ 4: Organisierte Skepsis -- sie ist die Basis systematischer kritischer Überprüfung der Ergebnisse. Kein Ergebnis wird akzeptiert bevor nicht alle Einwände und alternativen Möglichkeiten berücksichtigt und geprüft worden sind.

Max Delbrück selbst liess jedes Ergebnis von den Kollegen durch Wiederholung überprüfen. Erst wenn die Entdeckung wiederholbar war, wurde es zur Publikation freigegeben -- wobei natürlich keiner der Delbrück'schen Forscher, die das überprüft hatten, Autoren der Arbeit wurden. Damit wurde auch Irrtum oder gar Betrug in der wissenschaftlichen Forschung weitgehend ausgeschlossen. Der nicht hierarchische, auf Eigenverantwortlichkeit und Selbstkritik ausgerichtete "Kopenhagener Geist" der Forschung machte es sehr leicht, so die Wissenschaft "selbst zu kontrollieren". Max Delbrücks Kommentar zu den meisten neuen Entdeckungen war: "Ich glaube kein Wort davon". Es war eine Einladung zur Überprüfung, und eine Anerkennung der potentiellen Wichtigkeit der Entdeckung.

Auch mein Vater hat sein wissenschaftliches Leben nach diesen Imperativen gelebt -- also bin ich durch Verwandtschaft und Wahlverwandtschaft doppelt geprägt.

Obwohl Horace Freeland Judson in seinem kürzlich erschienenen Buch "The great betrayal" diese Imperative als "traurig naiv, idealistisch und altmodisch" bezeichnet, bin ich -- mit Max Delbrück -- davon überzeugt, dass sie auch heute immer wieder Gültigkeit haben. Wenn es uns gelänge, die Suche nach neuer Erkenntnis, die zu Entdeckungen von Naturgesetzen und Naturgegebenheiten führen, von der Entwicklung von Erfindungen, von der praktischen Anwendung des einmal Entdeckten zu entkoppeln, und die Motivationen für das letztere, das heißt für die Entwicklung von Technologie für praktische Zwecke genauso mit Imperativen zu beschreiben, dann würde klar, wie wichtig diese vier von Max Delbrück befolgten Imperative der Wissenschaft auch heute sind. Dabei gilt es insbesondere, den Imperativ 3, von "Desinteresse" zu "Interesse" gewandelt, in seiner Ethik so zu definieren, dass es vor den kritischen, preussisch-protestantischen Augen eines Max Delbrück Bestand hätte. Max Delbrück hat dem Max Delbrück Zentrum für Molekulare Medizin hohe ethische Ideale vorgelebt.

Max Delbrück liebte es, Streiche zu spielen, und seine Kollegen und Freunde mit solchen "practical jokes" auf ihren Humor über sich selbst zu testen. Er war neugierig auf Klatsch, Tratsch und Gerüchte. Er hörte auch da nicht auf, zu fragen -- und blieb doch in eigenen Dingen verschlossen, weil er fragte, aber nur selten antwortete. Er liebte Institutsfeste, was immer auch der Anlass für sie sein mochte. Bedingung war, dass Institutsmitglieder etwas inszenierten -- Musik, Tanz oder Theater -- was das Leben und die Personen des Instituts, ihn eingeschlossen, auch einmal kabarettistisch auf die Schippe nehmen durfte . Nach der Meinung seiner Frau Manny war er ein nachdenklicher und sanfter Mensch: "Einige seiner Studenten hatten Angst vor ihm, aber das war so, weil er ihnen die Wahrheit sagte. Das kann eine Art von Angst erzeugen, selbst wenn es am Ende das Beste für sie war." Wenn man mit Max Delbrück etwas zu tun haben wollte, dann musste man mit diesen schonungslosen Wahrheiten leben können.

Renato Dulbecco, der große Virologe, auch ein "Jünger" von Max Delbrück, sagte mir kürzlich: " Max war der souveräne Leiter in das futuristische Gebiet der Biologie, in die Genetik. Sein Urteil über unsere Arbeit, ob positiv oder negativ, wurde bedingungslos akzeptiert -- wie auch sein Rat. Wir hatten großes Vertrauen in ihn."

Max Delbrück starb am 9. März 1981 in Pasadena. Ich vermisse ihn sehr -- und heute immer mehr.

(Fritz Melchers war von 1980 bis 2001 Direktor des Basler Instituts für Immunologie und ist heute am Max Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin. Der Text ist das Manuskript einer Rede, die er am 4. September 2006 aus Anlass des hundertsten Geburtstags seines "zweiten Doktorvaters" Max Delbrück in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hielt.)





Letzte Änderungen: 04.12.2006