Editorial

Bomben, Stierhoden und Celluloid

(22.04.2021) 2021 wäre die Schering AG 150 Jahre geworden. Nach der Bayer-Übernahme 2006 ist nicht viel übrig geblieben vom weltbekannten Pharmakonzern.
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Dose aus den 30er-Jahren, Vasano gegen „See- Luft und Eisenbahnkrankheit“

Wie die so vieler anderer Pharma­firmen beginnt auch die Geschichte der Schering AG ganz bescheiden mit der Eröffnung einer Apotheke. Allerdings musste Firmengründer Ernst Christian Friedrich Schering dazu regelrecht gedrängt werden. Denn eigentlich war sein Traumjob ein anderer, nämlich Förster. Nach langem Hin und Her mit seinen Eltern ließ er sich letztendlich dann doch überreden, eine Apotheker­lehre und ein Pharmazie-Studium aufzunehmen. Mit finanzieller Unter­stützung seiner Familie kaufte er schließlich 1851 eine Apotheke in der Chaussee­straße, nahe des Oranien­burger Tors in Berlin, und nannte sie – wohl auch in Remineszenz an seine eigentliche Leidenschaft – die Grüne Apotheke.

Schering verkaufte dort aber nicht nur Heilmittel aller Art. Bald begann er, sich ein Laboratorium einzurichten, in dem er selbst Chemikalien herstellte. Und zwar besonders reine Chemikalien, für die Textil- und Seifen­industrie, aber auch für die aufkeimende Foto­industrie. Diese hochreinen Produkte kamen so gut an, dass er seine Produktion bald ausweiten musste. Und zwar in einer eigenen Produktions­anlage und unter dem Firmen­namen Chemische Fabrik Ernst Schering. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 bescherte ihm neue Aufträge (Versorgung des Heers mit Arzneien), Titel (Kommer­zienrat) und die Gelegenheit, seine Firma in eine Aktien­gesellschaft umzuwandeln. 1871 entstand so die Chemische Fabrik auf Actien, aus der die Schering AG hervorging.

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Glückliche Aktionäre

Die Erfolge der neu gegründeten Aktien­gesellschaft ließen nicht lange auf sich warten. Bereits 1879 musste das Fabrik­gelände erweitert werden. 200 Mitarbeiter arbeiteten da bereits für den verhinderten Förster. 1884 war man am Markt etabliert und zahlte seinen Aktio­nären eine Dividende von 15 %. Im Angebot waren Kalium­chlorid, Terpentinöl, Solbadesalz, Strychnin, Chinin, Cocain, Salicyl­säure und Magnesium­fackeln.

Bereits 1882 war Schering jedoch aus gesund­heitlichen Gründen aus dem Vorstand seines Unternehmens ausgeschieden. 1889 verstarb er 65-jährig. Zuvor sah er aber noch, wie ein wichtiger Grundstein für den zukünftigen Erfolg seiner Firma gelegt wurde. 1888 stellte man mit Albrecht Schmidt den ersten Chemiker ein, der nicht nur synthe­tisieren, sondern vor allem forschen sollte – und das taten er und seine Kollegen in der firmen­eigenen F&E-Abteilung dann auch eifrig.

Nur zwei Jahre später kam die erste pharma­zeutische Spezialität von Schering auf den Markt: Piperazin. Diese einfache organische Verbindung, die durch die Umsetzung von Ammoniak mit 1,2-Dichlorethan in Ethanol entsteht, war zunächst als „Verjüngungs­mittel“ gedacht. Die Nachfrage war allerdings gering und so schwenkte man kurze Zeit später um und verkaufte die Substanz kurzerhand als Gicht- und Rheumamittel, später dann als Anthel­minthikum, also Wurmmittel.

Lukrative Synthese

Ein weiterer Durchbruch gelang den Schering-Chemikern mit der Herstellung synthe­tischen Camphers. Campher benötigte man damals nicht nur in der Medizin, auch die Fotoindustrie verlangte nach der Substanz. Denn vermischt mit Cellulosenitrat entsteht daraus Celluloid, mit dem man beispiels­weise Fotofilme und -platten beschichtete. Gewonnen wird Campher aus dem Kampferbaum (Cinnamomum camphora), der allerdings nur in Ostasien wächst. Mit der gelungenen Synthese aus Terpentinölen konnte Schering so das jahrelange Monopol der Japaner brechen und den weltweiten Campher-Markt eine Zeitlang dominieren. Nebenher forschte man auch an antibak­teriellen Sulfonamiden, Röntgen­kontrast­mitteln und auch, gemeinsam mit Otto Warburg, an Medikamenten gegen Krebs.

Mitte der 1930er-Jahre hatte man sich so bereits ein erstaunliches Arsenal an Arzneien zusammen­synthetisiert. Zu den Schering’schen Spezial­präparaten gehörten das Schmerzmittel Veramon, das Grippe­mittel Arcanol, das Stuhlregu­lierungsmittel Normacol, das Tuberkulose-Mittel Solganal und Vasano gegen die Seekrankheit. „Die Namen all dieser Präparate sind über Deutschland hinaus bekannt und haben die Geltung der deutschen chemischen Industrie in die Welt getragen“, schreibt Der deutsche Volkswirt 1935.

Noble Partnerschaft

Weltruhm sollte man allerdings hauptsächlich mit den Hormon-Präparaten erlangen, denen man sich ab den 1930er-Jahren zuwandte. Der damalige Forschung­sleiter Walter Schoeller machte nämlich etwas ziemlich Schlaues, er kontaktierte die Universität Göttingen. Genauer gesagt, die Gruppe von Nobelprei­sträger Adolf Windaus, die sich den Steroiden verschrieben hatte. Da Windaus allerdings zu beschäftigt war, delegierte er die Arbeit an seinen Assistenten Adolf Butenandt weiter. Gemeinsam mit Schering arbeitete Butenandt Tausende von Ovarien und Hoden auf, um schließlich die Sexual­hormone Östrogen, Progesteron und Androsteron zu identifizieren. Für Butenandt sprang dabei ein Nobelpreis heraus, für Schering eine lukrative Produkt­palette. 1928 etwa Progynon, das erste Hormon-Präparat zur Behandlung klimak­terischer Beschwerden und 1933 Proluton bei Amenorrhöe. 1938 wiederum gelang die Synthese des Östrogens Ethinyl­estradiol, das bis heute Bestandteil der „Pille“ ist.

Speziell in den 1950er- und 60er-Jahren drehte sich bei Schering fast alles um Hormone. Exponate im Berliner Technik­museum zeugen von dieser Zeit. Unter anderem ist dort ein Stierhoden­schneider aus den 1950er-Jahren zu sehen. Dazu heißt es: „Als ergiebige Quelle zur Gewinnung von männlichen Hormonen erwiesen sich Stierhoden. Diese mussten zunächst zerkleinert werden, um die gewünschten Hormone besser extrahieren zu können. Für die stabilen Stierhoden wurden in den Forschungs­laboratorien der Firma Schering eigens Instrumente hergestellt“.

Die Trümmer einer Existenz

Zurück zu den 1940er-Jahren. Der Zweite Weltkrieg hatte deutliche Spuren hinterlassen. 1943 hatten Bomben das Fabrikgelände im Wedding und die dortige Haupt­verwaltung zerstört – fast alle Forschungs­berichte und Protokolle verbrannten. Im April 1945 kam das Weddinger Werk erneut unter Beschuss, hunderte Granaten schlugen in die Gebäude ein. Nach Kriegsende stand man also wortwörtlich vor den Trümmern der Firmen­existenz: neben der kompletten Zerstörung von Fabrik­gebäuden hatte Schering auch alle Produktions­stätten im Ausland verloren, ebenso wie alle ausländischen Patente. Außerdem hatten die sowjetischen Besatzer die Werksteile im Osten der Stadt fast vollständig auseinander­genommen. Nur ein paar Kleinteile, wie eine Tabletten­presse, konnte man noch aus dem Schutt bergen.

Es dauerte eine Zeit, bis alle zertrümmerten Geräte ersetzt und installiert waren. Doch dann stieg die Produktion wieder an und mit ihr der Umsatz. Wahrscheinlich würde er das  auch heute noch tun, wenn Anfang der 2000er-Jahre nicht Konkurrent Merck einen Blick auf die Berliner geworfen hätte. Die Übernahme wurde jedoch abgelehnt. Aber Merck war nicht der einzige Interessent. Auch Bayer liebäugelte mit einem lohnens­werten Zukauf und der Ausschaltung eines Konkurrenten. Diesmal ließ man sich, wie einst Ernst Schering, überreden und 2006 entstand so die Bayer Schering Pharma AG. Es dauerte aber keine fünf Jahre, da radierte Bayer den einst so berühmten Namen einfach aus – Bayer Healthcare hieß man dann schlicht. Das Ende einer Ära.

Das Vermächtnis

Ganz ausgelöscht ist der Name Schering aus der Welt der Medizin und Pharmazie jedoch nicht. Ganz aktuell taucht er vermehrt auch wieder in den Schlagzeilen auf, denn ein Pharma­skandal harrt noch seiner Aufklärung – so soll das Schering-Präparat Duogynon, das in den 1960er- und 70er-Jahren als Schwanger­schaftstest verwendet wurde, für Fehlbildungen (wie Herzfehler) von Neugeborenen verantwortlich sein. Das zuständige Gesund­heitsamt reagierte damals auffällig langsam und erst in den 80er-Jahren wurde das Hormon­-Präparat in Deutschland tatsächlich vorm Markt genommen. Inzwischen sind neue, kompro­mittierende Dokumente aufgetaucht, wie MedWatch kürzlich berichtete.

Auf der positiven Seite gibt es aber auch die Schering-Stiftung, die Wissenschaft und Kultur fördert und seit 2003 auch den Schering-Preis für natur­wissenschaftliche Grundlagen­forschung verleiht. Zum anderen lebt der Name Schering in einer Drogerie in Lübeck weiter. Scherings Sohn Richard hatte nämlich die Grüne Apotheke in Berlin übernommen und dort eine eigene Firma, die „R. Schering Fabrik chemisch pharmazeutische Präparate“, gegründet. Der Zweite Weltkrieg hinterließ auch hier nichts als Trümmer, sodass man auf eine Zweig­niederlassung in Lübeck ausweichen musste. Im Norden verkaufte die Firma flüssige Teerseife, medizinale Seifen und Medizinal-Weine. „Scherings Pepsinessenz“ zur Unter­stützung der Magen­funktion und bei Appetit­losigkeit (ein Likörglas zu jeder Mahlzeit) ist bis heute ein Renner. Geführt wird die Firma von Ernst Scherings Ururenkel Rik Blücher-Schering.

Kathleen Gransalke

Bild: Gefunden auf Etsy

Referenzen

Bartmann W. (2001): Zwischen Tradition und Fortschritt : aus der Geschichte der Pharmabereiche von Bayer, Hoechst und Schering von 1935 – 1975. Dissertation Uni Frankfurt
Berghausen, C. (2005): „Schering, Ernst“ in: Neue Deutsche Biographie 22, S. 697-698 [Online-Version]
Hentschel A. (2009): Ernst Schering – Gründer eines Weltunternehmens. DAZ 51/2009
Pressemappe 20. Jahrhundert, Eintrag: Schering AG
Technikmuseum Berlin, Dauerausstellung „Pillen und Pipetten“
Wikipedia-Einträge zu Schering AG und Ernst Schering


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Letzte Änderungen: 22.04.2021