Editorial

Vom Chaos zur Ordnung

(27.04.2021) Dass Ribozyme eher zufällig entstanden sind, ist extrem unwahr­scheinlich. Vermutlich war schon frühzeitig eine Selektion am Werk.
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Am Anfang war das Chaos. Doch mit der Zeit ordnete es sich, Nukleotide und Aminosäuren entstanden und verbanden sich zu Makro­molekülen, die biologische Funktionen gewannen und in Lipid­bläschen eingeschlossen wurden – erste Lebens­formen waren entstanden.

Wie sich aus abiotischen Verbindungen das Leben entwickelte, gehört zu den spannendsten Fragen, die Forscher heute zu beantworten versuchen. Weitgehend einig sind sie sich, dass in einer frühen „RNA-Welt“ die Speicher­funktion der DNA und die katalytische Aktivität von Proteinen in RNA-Molekülen miteinander verbunden waren. Als Zeugen dieser Zeit existieren noch heute Ribozyme, die sich selbst replizieren oder andere Reaktionen katalysieren können. Auch unter welchen Umwelt­bedingungen Nukleotide und Aminosäuren entstanden sein könnten, ist schon gut erforscht. Doch wie wurden aus einzelnen Nukleotiden komplexe Ribozyme?

Editorial

Aufwendig, aber spannend

Diese Frage stand im Zentrum von Patrick Kudellas Doktorarbeit bei Dieter Braun an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Brauns Arbeitsgruppe „Systems Biophysics“ gehört zum DFG-Exzellenz­cluster „Origins – Vom Ursprung des Universums bis zu den ersten Bausteinen des Lebens“, in dem sich Forscher verschiedener Fachrichtungen zusammen­geschlossen haben. Kudella selbst ist Physiker, hat sich jedoch bereits im Studium für die Biowissen­schaften interessiert. Durch seine inter­disziplinäre Ausbildung hat er sich auf die Fragen im Origins-Cluster gut vorbereitet gefühlt. „Das Origin-of-Life-Cluster ist sehr von einzelnen Feldern wie Geologie oder Astrophysik mit ganz speziellen Ansätzen dominiert“, berichtet Kudella. „Die Biophysik sitzt dazwischen und versucht, verschiedene Ansätze zu verknüpfen. Unsere Experimente sind dadurch teilweise sehr aufwendig – aber auch sehr spannend.“

Dabei haben die Biophysiker ein ehrgeiziges Ziel: Sie möchten die ersten Schritte der molekularen Evolution im Labor nachstellen und aus unbelebten Molekülen lebende Systeme schaffen, die letztlich einer darwinschen Evolution unterliegen. Dafür arbeiten sie mit sogenannten Thermo­gravitations­fallen, die Kudella als wasser­gefüllte Poren im Gestein beschreibt: „Ein Temperatur­gradient kann in den Thermog­ravitations­fallen zu einer Aufkonzen­tration von Molekülen führen.“

Effekte in Eppis

Sich vorzustellen, wie auf diese Weise ein funktions­fähiges Ribozym entstehen soll, ist trotzdem schwierig. Denn wenn man davon ausgeht, dass die vier bekannten Nukleotide zufällig miteinander verknüpft werden, kommt man bereits bei den dreißig bis vierzig Nukleotiden eines typischen Ribozyms auf eine schier unendliche Anzahl unter­schiedlicher Sequenzen, von denen nur ein Bruchteil biologische Funktionen aufweist. „Wir glauben deshalb, dass es einen frühen Selektions­mechanismus gegeben haben muss, um diesen sogenannten Sequenzraum zu verringern“, erklärt der Physiker. Und genau einem solchen Mechanismus ist er in seiner Doktorarbeit auf die Spur gekommen – allerdings nicht in Thermo­gravitations­kammern, sondern in Eppis (PNAS 118: e2018830118). „Hier können wir sicherstellen, dass alle entdeckten Effekte nur durch die Moleküle und die Temperatur entstehen und nicht durch zusätzliche Effekte wie die Akkumulation hervor­gerufen werden.“

In seinen Experimenten ließ Kudella kurze DNA-Stränge mit zufälliger Sequenz wachsen und überprüfte dann, ob bestimmte Stränge bevorzugt vermehrt wurden. Als Modellsystem verwendete er die Template-Ligation, bei der zwei Stränge (Substrate), die sich hinter­einander auf einer Vorlage (Template) anlagern, durch eine Ligase miteinander zu einem längeren Strang (Produkt) verknüpft werden. Auf diese Weise entstehen Stränge, deren Länge immer ein ganzzahliges Vielfaches der Substrate ist. „Eine Ligase hat es natürlich vor 3,8 Milliarden Jahren, als die ersten Makro­moleküle auf der Erde entstanden sind, noch nicht gegeben“, gibt der Biophysiker zu. „Templierte Ligation wird es aber trotzdem gegeben haben. Statt durch ein Enzym könnten die Stränge beispielsweise durch UV-Strahlung, bestimmte chemische Verbindungen – sogenannte Activation Agents wie EDC – oder aktivierte Basen in Oligomeren miteinander verknüpft worden sein.“

„Tote Stränge“ scheiden aus

Für das Experiment wählten die Forscher die Taq-Ligase aus Thermus aquaticus. Das Archaeon lebt in heißen Quellen und ist durch seine Polymerase, die die Polymerase­kettenreaktion revolutioniert hat, berühmt geworden. „Im Organismus dient die Ligase dazu, kaputte DNA-Stränge zu reparieren“, so Kudella. „Deshalb muss das Enzym sehr zuverlässig funktionieren und darf auch keine Präferenz für eine bestimmte Sequenz haben.“ Als Startpunkt für die Ligase­reaktion diente eine Mischung von DNA-Strängen, die gleichzeitig als Substrate und als Vorlage genutzt wurden. Die Stränge hatten eine einheitliche Länge von 12 Basenpaaren und zufällige Sequenzen aus den beiden Nukleotiden Adenin und Thymin. „A und T paaren schwächer als G und C“, erklärt der Biophysiker. „So konnten wir die Temperatur niedriger wählen und dadurch die Ligase schonen. Außerdem sorgt der kleinere Sequenzraum dieses binären Alphabets dafür, dass wir mittels der sogenannten Deep-Sequencing-Methode die gesamte Mischung analysieren konnten.“

Durch die Wahl geeigneter Temperaturen für das Aufschmelzen der Doppelstränge, die Anlagerung der Substrate und ihre Verknüpfung entstanden mit der Zeit immer längere Stränge. Alle 200 Zyklen entnahmen die Forscher Proben und bestimmten die Sequenzen. Eine selbst­geschriebene Software verriet, dass die Sequenzen mit zunehmenden Reaktions­runden immer weniger zufällig wurden. „Die Entropie nahm mit der Zeit ab – ein Zeichen dafür, dass ein Selektions­mechanismus am Werk war“, freut sich der Physiker.

Am auffälligsten und schon mit bloßem Auge erkennbar war, dass sich das Basenverhältnis von 50 zu 50 in Richtung 30 zu 70 Prozent verschoben hatte. Dabei gab es sowohl A-Typ- als auch T-Typ-Stränge, die jeweils von einem der beiden Nukleotide dominiert waren. Diese Verschiebung des Basen­verhältnisses erklärt Kudella wie folgt: „Sequenzen mit einer ausgeglichenen Anzahl an Thymin und Adenin neigen dazu, durch Rückfaltungen Haarnadeln zu bilden. Sie können deshalb keine anderen Stränge mehr binden, sind damit weder Vorlage noch Substrat und können deshalb durch die templierte Ligation nicht mehr vermehrt werden. Stränge mit einem Verhältnis von 30 zu 70 können dagegen kaum mehr mit sich selbst falten. Gleichzeitig schränken sie aber die möglichen Sequenz­motive nur bedingt ein.“

Optimaler Anfang

Trotzdem tauchten bei einer kleinen Anzahl der Produkte auffällig lange Haarnadel-bildende Motive auf. Gerade sie bieten möglicher­weise einen Einblick in die frühe Evolution wie Kudella darlegt: „Funktions­fähige Ribozyme brauchen doppel­strängige Bereiche, so wie sie entstehen, wenn sich unsere zueinander komple­mentären A- und T-Typ-Stränge miteinander verbinden. Das ist ein optimaler Ausgangspunkt für die Entwicklung von Ribozymen.“

Doch noch etwas anderes war an den Sequenzen abzulesen. So bestand der Ausgangspool zwar aus zufälligen Sequenzen, doch Sequenzen mit den Nukleotiden AT am Ende waren leicht über­repräsentiert. Da die Abfolge AT zu sich selbst komplementär ist, lagerten sich solche Stränge bevorzugt zusammen, und um die Ligasestellen herum entstanden Abschnitte mit AT-Wieder­holungen. „Das passt gut zu den Bedingungen bei der Entstehung des Lebens“, so Kudella. „Damals waren die Bedingungen sicher inhomogen – so ist Adenin zum Beispiel leichter zu synthe­tisieren als andere Basen und war deshalb vermutlich häufiger.“

Hin zu mehr Komplexität

Zum Schluss schaute sich die Gruppe noch an, welche Stränge bevorzugt als Vorlage verwendet und in welcher Reihenfolge sie verknüpft wurden. Dazu verwendete sie jeweils Pools aus acht verschiedenen Sequenzen, die entweder zufällig ausgewählt waren, sich im vorherigen Experiment für die Template-Ligation als besonders geeignet heraus­gestellt hatten oder künstlich für die Reaktion optimiert worden waren. „Dabei zeigte sich, dass sich der Pool aus Strängen, die sich zuvor am besten durchgesetzt hatten, im Prinzip wie das Gesamtsystem verhielt“, fasst Kudella zusammen. „Die zufälligen Sequenzen zeigten dagegen eine viel schlechtere Verlängerung. Und auch der Pool aus optimierten Strängen verhielt sich ganz anders.“ Letzteres fanden die Forscher so spannend, dass sie in Kooperation mit Ulrich Gerland von der Technischen Universität München das Wachstum dieser Stränge simulierten. Die gemeinsame Publikation ist bereits positiv begutachtet worden.

Kudella steht inzwischen kurz vor der Verteidigung seiner Doktorarbeit. Im Labor hat Co-Autorin Annalena Salditt die Stellung übernommen. Sie arbeitet weiter mit dem von Kudella etablierten Modellsystem und versucht dessen Komplexität zu erhöhen, etwa indem sie verschieden lange Stränge einsetzt oder alle vier Basen verwendet. Eine weitere Idee ist, den Mechanismus in den Thermo­gravitations­fallen zu testen und so dem natürlichen System immer näher­zukommen. Kudella dagegen sieht seine Zukunft in der Wirtschaft: „Die befristeten Verträge an der Uni bieten einfach keine dauerhafte Perspektive“, bedauert er. Gleichzeitig bleibt er optimistisch: „Überall wo Biomedizin mit einer Prise Informatik gebraucht wird, kann ich meine Expertise einbringen.“

Larissa Tetsch

Bild: Juliet Merz
Mehr Illustrationen von Juliet gibt es auf ihrer Behance-Seite.

Dieser Artikel erschien zuerst in Laborjournal 4-2021.


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Letzte Änderungen: 27.04.2021