Editorial

Weniger ist manchmal mehr

(11.10.2021) Hirudin aus Blutegeln ist als Gerin­nungs­hemmer äußerst gefragt. Man kann es in Hefe oder Bakterien herstellen – oder noch besser: ganz ohne Zellen.
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Ob sich Proteine für eine technische oder medizinische Nutzung in großer Menge produzieren lassen, hängt ganz entscheidend von der Wahl des richtigen Expressions­systems ab. So wachsen Bakterien wie Escherichia coli schnell und können hohe Ausbeuten von rekombinanten Proteinen erzielen. Für die Produktion von eukaryotischen Proteinen sind sie jedoch oft nicht geeignet – entweder weil Enzymsysteme für posttrans­lationale Modifikationen fehlen oder weil die Protein­faltung nicht richtig erfolgt. Ist dies der Fall, kann es manchmal helfen, auf ein eukaryotisches Expressions­system auszuweichen. Gut geeignet ist hierfür beispielsweise die Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae, die sich ähnlich schnell vermehrt und leicht handhaben lässt wie Bakterien, als Eukaryot aber über die notwendige Enzym­ausstattung verfügt, um funktionsfähige eukaryotische Proteine herzustellen. Aber auch in pflanzlichen und tierischen Zellkulturen können rekombinante Proteine produziert werden.

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Limitierungen überwinden

Doch selbst bei der Wahl des optimalen Expressions­systems bleiben gewisse Beschränkungen bestehen. So müssen alle lebenden Zellen Energie für Stoffwechsel und Wachstum aufwenden – Energie, die der Protein­produktion verloren geht. Zudem können Produkte oder Zwischen­produkte für die Zellen toxisch sein, sodass nur geringe Ausbeuten erreicht werden. Und selbst bei guter Ausbeute kann die Reinigung des Produkts sehr aufwendig und teuer sein, vor allem wenn ausgeschlossen werden muss, dass ansonsten toxische Verbindungen oder falsch gefaltete und dadurch möglicherweise schädliche Proteine im Präparat verbleiben könnten.

Eine Alternative können zellfreie Expressions­systeme darstellen. Hier findet die Proteinsynthese in einer wässrigen Lösung statt, die die gesamte Translations­maschinerie einer bestimmten Zelllinie enthält. Dazu werden die Zellen aufgeschlossen und nicht benötigte Organellen wie Zellkerne und Mitochondrien entfernt. Aus Bestandteilen des Endoplas­matischen Reticulums entstehen dabei spontan mikrosomale Vesikel, die im Lumen Enzyme für die Glykosylierung, die Disulfid­verbrückung und Chaperone enthalten. Während der zellfreien Synthese gelangen Proteine, die die richtige Signalsequenz besitzen, ins Vesikellumen und können dort posttrans­lational modifiziert werden. Ohne aufwendige Reinigungs­schritte stehen sie dann sofort für Aktivitätstests zur Verfügung.

Bewährungsprobe am Gerinnungshemmer

Anhand des gerinnungs­hemmenden Wirkstoffs Hirudin konnte nun gezeigt werden, dass in zellfreien Systemen produzierte Proteine darüber hinaus sogar deutlich höhere Wirksamkeit aufweisen können. Hirudine sind eine Wirkstoffklasse, die von blutsaugenden Egeln genutzt wird, um die Blutgerinnung des Wirts zu unterdrücken. Sie hemmen das Enzym Thrombin und stellen damit eine pharma­kologische Alternative zur Gabe des menschlichen Gerinnungs­hemmers Heparin dar. Während Hirudine früher aus den Speicheldrüsen des Medizinischen Blutegels (Hirudo medicinalis) isoliert wurden, stammen sie heute vor allem aus Hefezellen. Diese rekombinanten Hirudine weisen allerdings oft eine deutlich reduzierte Wirksamkeit auf. Dies könnte an einer fehlerhaften Faltung und einer fehlenden Sulfatierung an Tyrosin 63 liegen.

An der Universität Greifswald untersuchen Jan-Peter Hildebrandt, Professor für Physiologie und Biochemie der Tiere, und sein Mitarbeiter Christian Müller die Speicheldrüsen­produkte von blutsaugenden Egeln. „Wir haben festgestellt, dass bei unseren in Bakterien hergestellten Proteinen die drei Disulfidbrücken, die zur Grundstruktur der Hirudine gehören, nicht selektiv ausgebildet werden. Daher wird vermutlich die Variante mit der höchsten biologischen Wirksamkeit nicht häufiger produziert als alle anderen Varianten“, erzählt Hildebrandt. „Aus diesem Grund kamen wir auf die Idee, ein zellfreies Expressions­system auszuprobieren.“

Unterstützung bekamen die Greifswalder von Wissenschaftlern um Stefan Kubick und Doreen Wüstenhagen vom Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Potsdam. „Wir verwenden für die Hirudin­produktion ein gekoppeltes zellfreies System“, erklärt Kubick. „Zu dem Lysat einer Zelllinie geben wir ein Plasmid, das das gewünschte Protein unter der Kontrolle eines T7-Promotors codiert. Die hinzugefügte T7-Polymerase bildet dann das mRNA-Transkript, das anschließend von der aktiven Translations­maschinerie in ein Protein umgesetzt wird.“ Zuvor muss natürlich noch die zelleigene mRNA entfernt werden. Dazu verwenden die Forscher eine Nuklease, die bei hohen Calcium-Konzentrationen aktiv ist und durch eine Komplexierung des Calciums durch EGTA inaktiviert werden kann.

Einfache Hochskalierung

Insgesamt wurden drei Expressions­systeme eingesetzt, die auf verschiedenen eukaryotischen Zelllinien (Insekt, Hamster, Mensch) basieren. Das beste Ergebnis lieferte die menschliche Zelllinie K562, aus der Hirudin mit einer Ausbeute von 50 nmol/l gewonnen werden konnte. In zwei verschiedenen Antikoagu­lationstests war dieses Protein wirksamer als das aus den anderen getesteten Systemen, und es war sogar hundertfach wirksamer als Protein, das aus Bakterien­zellen stammte (Sci Rep: 10:19818). Worauf die höhere inhibitorische Potenz zurückzuführen ist, ist noch nicht im Detail geklärt. „Wir wissen, dass bestimmte N-Glyko­sylierungen, die Bildung von Disulfidbrücken und die Lipidmo­difikation in unserem System funktionieren“, so Kubick. „Wir können in unserem offenen System viele Parameter wie den pH-Wert und die Ionenkon­zentrationen viel definierter einstellen als in einer lebenden Zelle. Davon profitiert vor allem die Proteinfaltung.“ Tyrosin-Sulfatierung konnte dagegen bisher noch nicht nachgewiesen werden.

Ein weiterer großer Vorteil ist, dass sich zellfreie Expressions­systeme gut skalieren lassen wie der Fraunhofer-Forscher erklärt: „In zellfreien Systemen können im Sub-Mikroliterbereich, beispielsweise in einem Maßstab von 20-50 µl, die Reaktions­bedingungen sehr gut eingestellt werden. Anschließend kann unter diesen Bedingungen bis zu einem Volumen von etwa 100 Litern hochskaliert werden. Durch diese gute Skalierbarkeit können wir den Ressourcen­verbrauch sehr gering halten.“ Die hohe Wirksamkeit der zellfrei produzierten Hirudine ebnet den Weg für die Erforschung weiterer Blutegel-Wirkstoffe in Greifswald.

Neue Wirkstoffkandidaten im Blick

Hildebrandt und Müller konzentrieren sich bei ihrer Arbeit einerseits auf die Vielfalt und Funktion der Speicheldrüsen­proteine und andererseits auf die Evolution der blutsaugenden Lebensweise. „Um den Ursprung der Hämatophagie zu klären, müssen vergleichende Studien an möglichst vielen Egelarten stattfinden“, sagt Hildebrandt. Zu den wenigen der über hundert Komponenten, die bereits funktionell charakterisiert sind, gehören beispielsweise solche, die den primären Wundverschluss unterdrücken oder möglicherweise sogar Fibringerinnsel wieder auflösen können.

Andere wirken entzündungs­hemmend und schmerzlindernd oder auch antibakteriell. Von Müller neu entdeckt wurde außerdem die Klasse der Hirudin-ähnlichen Faktoren, von denen manche – aber nicht alle – wie die klassischen Hirudine Thrombin-hemmende Eigenschaften aufweisen (Mol Genet Genomics, 291(1):227-40). Interessanter­weise werden sie auch von manchen Egeln gebildet, die sich nicht von Blut ernähren. „Möglicherweise haben diese ihre Ernährung sekundär von Blutnahrung auf räuberische Lebensweise umgestellt“, spekuliert Hildebrandt. Für ihn endet die Egelforschung zwar bald mit der Pensionierung, doch Christian Müller wird das Projekt fortsetzen. So können die zellfreien Systeme der Fraunhofer-Forscher bald helfen, die Geheimnisse der Hirudin-ähnlichen Faktoren und anderer Egelproteine zu ergründen.

Larissa Tetsch

Bild: AdobeStock/Yarkovoy


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Letzte Änderungen: 11.10.2021