Editorial

Eigentlich mag’s SARS-CoV-2 auch lieber kühler

(17.12.2021) Wie Erkältungsviren bevorzugt auch SARS-CoV-2 kalte Nasen. Dummerweise scheint sich aber gerade Omikron nicht daran zu halten.
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„Geh‘ mit den nassen Haaren nicht raus in die Kälte! Du holst dir ’ne Erkältung.“ Wer hat diese zwei Sätze nicht schon einmal gehört? Und tut sie heute als blöden Volksglauben ab. Aber ist er wirklich so blöd?

Sicher, es ist schon lange bekannt, dass keineswegs Kälte, sondern Atemwegsviren Triefnasen und Halskratzen verursachen – vor allem Rhinoviren, aber auch gewisse Entero-, Corona- und Mastadeno-Viren.

Und klar, Kälte ist nicht mal eine notwendige Vorbedingung für Erkältungen – das wurde oft genug explizit getestet. Schließlich bekommt man Erkältungen ja durchaus auch in der warmen Jahreszeit. Und wie oft ausgerechnet im wohlverdienten Sommerurlaub.

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Lauschige 33 Grad

So gesehen, spielt Kälte also allenfalls eine doppelt indirekte Rolle bei Erkältungen: Wenn es draußen kalt ist, hält man sich häufiger und länger mit anderen Menschen in geschlossenen Räumen auf und lüftet auch weniger – woraufhin die Viren per Tröpfcheninfektion leichter den Weg von einer Schleimhaut zur anderen finden. 

Resultat ist eine deutliche Häufung von Erkältungen zur kalten Jahreszeit – allerdings mit zwei Gipfeln im Frühjahr und im Herbst statt im Winter. Der echte Winter, wenn draußen alle Tröpfchen gefrieren, scheint den Viren doch zu knackig.

Wie auch immer, der namensgebende Volksmund hat somit natürlich dennoch richtig beobachtet. Und Rückenwind bekam er letztlich durch das, was US-Forscher vor sechs Jahren in PNAS veröffentlichten (112 (3): 827-832). Rhinoviren vermehren sich in Schleimhaut-Zellkulturen bei 33 Grad deutlich besser als bei 37 Grad, verkündeten sie dort. Dies wiederum liege allerdings nicht an den Viren selbst, sondern vielmehr an der deutlich schlechteren antiviralen Abwehrantwort bei 33 Grad – denn zumindest in Schleimhautzellen von immundefekten Mäusen vermehrten sich die Schnupfenviren bei 33 und 37 Grad gleich schnell.

Nasenschleimhaut? SARS-CoV-2? Da war doch was ...

Das hieße wohl generell, dass Säugerzellen bei 33 Grad schwächere Gegner für Viren aller Art sind als bei 37 Grad. Doch welche unserer Zellen kühlen in vivo wenigstens kurzfristig mal auf deutlich unter 37 Grad? Das stetige Einziehen besonders nasskalter Luft macht die Nasenschleimhaut-Zellen tatsächlich zum Top-Kandidaten.

Womit es nun auch bezüglich Corona klingeln dürfte. Schließlich stürzt sich SARS-CoV-2 gleich nach dem Einatmen förmlich auf das Angiotensin-Converting Enzyme 2 (ACE2) auf der Oberfläche der Nasenschleimhaut-Zellen (Cell 182, 429-446). Da es dies jedoch im heißfeuchten Amazonas-Gebiet wie auch im weihnachtlichen Mittel- und Nordeuropa offenbar mit gleicher Intensität tut, wurde die Temperaturabhängigkeit dieses Prozesses lange nicht getestet.

Bis vor zwei Monaten kanadische Forscher ein Paper mit dem Titel „Impact of temperature on the affinity of SARS-CoV-2 Spike glycoprotein for host ACE2“ veröffentlichten (J. Biol. Chem. 297(4): 101150). Im Abstract schreiben sie:

„Bekanntlich bindet die Rezeptor-bindende Domäne (RBD) des Spike-Proteins von SARS-CoV-2 an ACE2, um die Virusfusion einzuleiten. Mit Hilfe biochemischer, biophysikalischer und funktioneller Assays zur Untersuchung des Temperatureffekts auf die Rezeptor-Spike-Interaktion beobachteten wir einen signifikanten und schrittweisen Anstieg der RBD-ACE2-Affinität bei niedrigen Temperaturen – was zu einer langsameren Dissoziationskinetik führte. Dies wiederum bewirkte eine verstärkte Interaktion des vollständigen Spike-Glykoproteins mit dem ACE2-Rezeptor inklusive einer stärkeren viralen Bindung bei niedrigen Temperaturen.“

Mit Omikron ist alles anders

In der „Discussion“ ergänzen sie dann: 

„Eintritt und frühe Replikationskinetik von SARS-CoV-2 werden durch eine verstärkte Adsorption des Virus bei kalten Temperaturen hochgetrieben. Dies könnte gerade im Gewebe der oberen Atemwege zu schnellerer Replikation und höherer Übertragbarkeit des Virus führen, wenn es niedrigeren saisonalen Temperaturen ausgesetzt ist. […] In der Tat liegt die optimale Lufttemperatur für die Übertragung von SARS-CoV-2 zwischen 5 und 15 Grad Celsius. Beim Eintritt in die oberen Atemwege erzeugt diese niedrige Temperatur einen Gradienten von der Nasenhöhle zur Luftröhre, wo sie etwa 33 Grad Celsius erreicht. Da zudem ACE2 in Nasenepithelzellen stark exprimiert wird, macht dies die Nasenhöhle zu einer bemerkenswert günstigen Mikroumgebung für die anfängliche Adsorption und frühe Vermehrung von SARS-CoV-2.“

Warum aber breitet sich SARS-CoV-2 in Brasilien und Indien dann kaum langsamer aus. Dazu schreiben die Kanadier:

„Interessanterweise eliminiert die RBD-Mutation N501Y […] diesen Temperatureffekt. Folglich liegt nahe, dass der Erwerb von N501Y eine Anpassung an wärmere Klimazonen widerspiegelt. Diese Hypothese ist allerdings noch zu prüfen.“

Mit Omikron, das ja auch die Mutation N501Y trägt, könnte folglich der sommerliche Inzidenz-Rückgang, wie wir ihn hierzulande zuletzt zweimal erlebt haben, künftig leider ausfallen. Der ursprüngliche „Wuhan-Typ“ und auch die Delta-Variante finden hingegen gerade in kalten Nasen offenbar deutlich günstigere Voraussetzungen vor: Die generelle antivirale Abwehrantwort des Wirtes funktioniert nur suboptimal, und die eigenen Spike-Proteine binden umso inniger an die zahlreich vorhandenen ACE2-Zell-Eintrittstore.

Ralf Neumann

(Illustr.: AdobeStock / peterschreiber.media)

 

(Korrektur: In einer früheren Version dieses Beitrags schrieben wir fälschlicherweise, dass auch Delta über die N501Y-Mutation verfügt – und somit wie Omikron dem Temperatureffekt entflieht. Das ist jedoch nicht der Fall. Wir haben das in dem Artikel entsprechend korrigiert und bitten um Entschuldigung für den Fehler.)


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Letzte Änderungen: 17.12.2021