Editorial

Sind Mutationen mehr als nur Zufall?

(11.02.2022) Eine neue Arabidopsis-Studie verändert unsere Sicht auf die Evolution – meint unser Gastautor Martin Neukamm von der AG Evolutionsbiologie.
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Mutationen sind insofern zufällig, als sie unabhängig davon auftreten, ob sie ihrem Träger nützen oder schaden. Eine neue Studie rückt diese Jahrzehnte alte Annahme jetzt jedoch in ein neues Licht. So lieferte die Auswertung von tausenden Veränderungen im Genom der Acker-Schmalwand Arabidopsis einen unerwarteten Befund: Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Mutation ist dort höher, wo sie statistisch nützlicher ist. Die Studienautoren aus dem Tübinger Max-Planck-Institut (MPI) für Entwicklungsbiologie samt ihren Kooperatoren schließen daraus, dass Gene, die besonders anfällig für schädliche Mutationen sind, seltener mutieren als andere DNA-Abschnitte. Umgekehrt ist die Mutationsrate an Stellen des Erbguts höher, wo eine größere Chance auf nützliche Veränderungen besteht. Auf diese Weise haben die Ergebnisse interessante Konsequenzen für unsere Sicht auf die Mechanismen der Evolution.

„Mutation Bias“: Genetische Veränderungen sind nicht gleichverteilt

In der Fachwelt ist seit langem bekannt, dass nicht alle DNA-Abschnitte gleich häufig von Genmutationen betroffen sind. So ist zum Beispiel die Mutationsrate in Regionen des Erbguts, in denen sich die DNA-Basenabfolge „Cytosin-Guanin“ häufig wiederholt (so genannte CG-Inseln), höher als in den übrigen. Zudem sind nicht alle Punktmutationen gleich wahrscheinlich: DNA-Basen werden häufiger gegen strukturverwandte Basen ausgetauscht als gegen solche, mit denen sich der chemische Charakter der Base ändert: Eine Purinbase (Adenin, Guanin) wird bevorzugt durch die andere Purinbase ersetzt; analoges gilt für die Pyrimidinbasen.

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Das Phänomen, dass unter dem Einfluss physikalisch-chemischer Prozesse bestimmte Genmutationen häufiger auftreten und manche Erbgutabschnitte rascher mutieren als andere, bezeichnen Genetiker als „Mutation Bias“. Gelehrt wird das seit Jahrzehnten. Neu ist hingegen die Erkenntnis, dass die Mutationshäufigkeiten in Abhängigkeit von den Schäden und Vorteilen variieren, die durch Mutationen zu erwarten sind. 

Die Mutationsrate steht im Zusammenhang mit der Funktion der Gene

Die Standard-Evolutionstheorie hatte ein solches Phänomen bisher nicht auf dem Schirm. Ihm kam jetzt ein Team um Detlev Weigel und Grey Monroe am Max-Planck-Institut für Biologie in Tübingen auf die Spur (Monroe ist inzwischen weitergezogen an die University of California in Davis). Die Teammitglieder züchteten hunderte von Exemplaren der Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) unter Bedingungen, die es zuließen, dass sich auch Pflanzen mit schädlichen Mutationen vermehrten (Nature, doi.:10.1038/s41586-021-04269-6). So konnten sie schließlich tausende von Mutationen nachweisen, die normalerweise unter dem Einfluss reinigender Selektion rasch wieder verschwinden würden.

Mithilfe statistischer Verfahren wiesen die Autoren anschließend nach, dass die Mutationen keineswegs unabhängig von der Funktion der jeweiligen Gene über das Genom verstreut waren. Gene, bei denen schädliche Veränderungen katastrophal auf die Pflanze wirken, waren kaum von Mutationen betroffen. Andere Genomabschnitte, wie etwa wie regulatorische DNA-Sequenzen, wo eine größere Chance auf nützliche Veränderungen besteht, zeigten sich dagegen „mutationsfreudiger“.

DNA-Reparatur beeinflusst die Häufigkeit genetischer Veränderungen

Grund für die funktionsabhängige Variabilität der Mutationsraten sind epigenetische Veränderungen an bestimmten Erbgutabschnitten oder Stützproteinen der DNA. Sie steigern oder vermindern die Effektivität der Reparatur von DNA-Schäden. 

Monroe und Co. fanden zum Beispiel in häufig mutierten Bereichen des Erbguts höhere Anteile an Cytosinen, die mit Methylgruppen versehen waren. Solche chemisch veränderten Cytosin-Bausteine begünstigten Genveränderungen. Des Weiteren fanden die Autoren in regulatorischen Regionen häufig DNA-Strukturen, die Reparaturenzyme behindern, was die Mutationsrate ebenfalls steigert.

Lebensnotwendige Gene wiederum waren oft mit epigenetisch veränderten Histonen assoziiert, die die Effektivität der DNA-Reparatur verbessern und dadurch die Mutationsrate drosseln.

Die Mutationsrate als Ergebnis evolutiver Anpassung: ein Mechanismus

Die Stabilisierung für das Überleben wichtiger Gene ist ein einleuchtender Überlebensvorteil. Sie verringert die genetische Bürde („Mutational Load“), also die Gesamtheit der im Genom oder im Genpool einer Population „mitgeschleppten“ schädlichen Gene. Die Steigerung der Mutationsrate in anderen Genomregionen wiederum bringt den Evolutionsvorteil einer rascheren Anpassungsfähigkeit mit sich. 

Monroe et al. sprechen daher von einem „Adaptive Mutation Bias“. Sie meinen damit, dass die Selektion Veränderungen im Epigenom bevorzugt, die über eine verbesserte DNA-Reparatur lebensnotwendige Gene vor schädlichen Mutationen schützen und durch erhöhte Mutabilität in regulatorischen Bereichen die Anpassungschancen steigern. 

Theoretisch könnte dies dazu führen, dass die Mutationsrate genspezifisch evolviert. Die Sache hat nur einen Haken: Der Selektionsdruck ist so schwach, dass dies nur in Organismen mit riesigen Populationen zu adaptiver Evolution führen würde. Ob das funktioniert, hängt auch von der Länge des Abschnitts ab, für den die Mutationsrate gesenkt werden soll. Da die betreffenden Gene über 200.000 Basenpaare (200 kB) lang sein müssten, ging man bislang davon aus, dass die Mutationsraten nicht genspezifisch evolvieren können. Denn so lang sind Gene normalerweise nicht.

Das Autorenteam präsentiert nun einen Mechanismus, mit dem Organismen auch bei kleiner effektiver Populationsgröße ihre Mutationsraten genspezifisch anpassen können: Im Zentrum ihrer Überlegungen stehen bestimmte Marker-Proteine, die sensitiv für Expressionsraten sind. Das heißt, diese Proteine „markieren“ essenzielle Gene, indem sie an hochexprimierte Sequenzen binden, also an stark abgelesene DNA-Abschnitte. Diese Marker rekrutieren wiederum durch Bindung DNA-Reparatur-Enzyme, wodurch dort die Mutationsrate sinkt. Tritt nun eine Mutation ein, die diese Rekrutierung verstärkt, beeinflusst dies dutzende Gene gleichzeitig, sodass die erwähnte Mindestlänge der Gene von 200 kB keine Rolle mehr spielt. 

Optimierte Mutationsraten erleichtern die Entstehung von Innovationen

Für die Evolutionstheorie sind die Erkenntnisse der neuen Studie in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen zeigt sich, dass schädliche Mutationen nicht allein durch stabilisierende Selektion auf der Ebene des Phänotyps aus dem Gen-Pool einer Population entfernt werden. Vielmehr weist das Genom selbst Anpassungen auf, die den Anteil negativer Mutationen an der allgemeinen Mutationsrate verringern. Dieser „Filter“ ist gleichsam der stabilisierenden Selektion vorgeschaltet.

Zum anderen senkt der optimierte „Outcome“ die relative Häufigkeit schädlicher Mutationen in vulnerablen Bereichen. Damit sind vorteilhafte Mutationen im Gesamtgenom proportional häufiger als bei einer funktionsunabhängigen Gleichverteilung der Mutationen. Folglich können auf diese Weise evolutionäre Anpassungen rascher entstehen als dies ohne „Mutation Bias“ der Fall wäre.

Es scheint immer klarer zu werden: Das in der Evolution entstandene Genom ist ein komplexes System, das seine eigene, weitere Evolution beeinflusst.

 

Originalartikel:

Monroe, J.G.; Srikant, T.; Carbonell-Bejerano, P. et al.: Mutation bias reflects natural selection in Arabidopsis thaliana. Nature, doi.:10.1038/s41586-021-04269-6.

 

Der Autor Martin Neukamm ist Geschäftsführender Redakteur der AG Evolutionsbiologie

(Illustr.: MPI f. Entwicklungsbiologie)

 

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Letzte Änderungen: 09.02.2022