Passt in Taschen und Falten
Man mag sich fragen: Wie kann ein Protein, das wichtig im Krankheitsgeschehen ist, undruggable sein? Schließlich muss es ja eine relevante Aufgabe erfüllen und folglich auch spezifische Eigenschaften haben. Und diese Eigenschaften müssen sich irgendwie in der chemischen Interaktion widerspiegeln. Oder umgekehrt gefragt: Was macht ein Protein denn überhaupt zu einem geeigneten pharmakologischen Ziel?
Klassische Small Molecules passen besonders gut in Taschen oder Falten eines Proteins, dort, wo hydrophobe Flächen nach innen gestülpt, aber trotzdem noch erreichbar sind. Nun ist es aber nicht damit getan, dass ein kleines Molekül einfach irgendwo passt; es muss das Zielmolekül auch beeinflussen. Deshalb setzt sich ein kleines Molekül entweder direkt in ein enzymatisches Zentrum, oder die Bindung modifiziert das Protein allosterisch. Der Wirkstoff muss also auch an einer funktionellen Stellschraube seines Ziels drehen.
Zu klein für große Flächen
Doch längst nicht alle Proteine haben solch einen lokal begrenzten „Knopf“ zum Draufdrücken. Denken wir etwa an einen Transkriptionsfaktor, der DNA bindet: Hier sind nicht einzelne hydrophobe Mulden für die Bindung relevant, sondern die Interaktion mit der DNA erfolgt über eine weite Fläche hinweg. Klassische Small Molecules können hier nichts ausrichten, sie würden an solch einem großen Molekül einfach zu wenig verändern.
„Proteine mit großen Interaktionsflächen haben viele schwache Interaktionen; das kann man mit einem kleinen Molekül leider nicht gut adressieren“, erklärt Manfred Jung vom Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der Universität Freiburg. „Im Prinzip sollte man natürlich in der Lage sein, gegen jedes Protein einen Antikörper zu finden, aber bei einem intrazellulären Target stellt sich dann die Frage: Gelangt dieser Antikörper überhaupt dorthin?“ Jung bezieht den Begriff „undruggable“ daher vor allem auf den Einsatz von Small Molecules. Außerdem relativiert er die Bezeichnung und spricht lieber von „bis jetzt undruggable“. So habe man gegen KRAS, das lange als pharmakologisch nicht ansprechbar galt, inzwischen doch einen Wirkstoff gefunden.
Darüber berichtet der Internist und Krebsforscher Matthias Scheffler. Er ist Teil der LCGC, der Lung Cancer Group Cologne, an der Kölner Uniklinik und betreut Lungenkrebspatienten. „Wir sind eine Studiengruppe, aber klinisch orientiert“, erläutert Scheffler seine Arbeit, „und wir möchten personalisierte Therapiekonzepte anbieten und schauen uns die Mutationen der einzelnen Patienten an“. Dabei fällt immer wieder KRAS auf: „Man kann sagen, zwischen einem Viertel und einem Drittel der Lungenkrebspatienten haben eine KRAS-Mutation.“
Antikörper-Wirkstoff chancenlos
KRAS ist eine GTPase und als knapp 300 Aminosäuren kleines Protein auf den ersten Blick recht unspektakulär. Es erfüllt seine Funktion im Zellinneren in der Nähe der Membran und kann im Zusammenspiel mit einigen anderen Proteinen über den EGF-Rezeptor aktiviert werden, wenn außerhalb der Zelle EGF bindet. „Und dann hat KRAS eigentlich nur die Aufgabe, GTP zu binden, um weitere Signaltransduktionen in die Wege zu leiten“, so Scheffler. Vor allem zwei Pathways seien wichtig: Über RAF, MEK und ERK oder aber AKT und mTOR gelangt ein Signal bis in den Zellkern. Mit GTP ist KRAS aktiv, mit GDP inaktiv.
Bestimmte Mutationen können nun bewirken, dass GTP dauerhaft gebunden bleibt. „Wir sagen dann, das Protein wird Liganden-unabhängig – da brauchen Sie also gar nicht erst mit irgendwelchen Antikörpern außerhalb der Zelle etwas blockieren“, so Scheffler. Zwar könnte man sich Liganden vorstellen, die die Bindestelle blockieren, doch in Anwesenheit von GTP hätte solch ein Wirkstoff keine Chance, einfach weil die Affinität zwischen GTP und KRAS enorm hoch ist. „Es reichen pikomolare GTP-Konzentrationen; der niedrigste Wert, den ich von Arzneimitteln kenne, liegt um die nanomolare Größenordnung herum, also eine Tausenderpotenz mehr.“ Ein Antagonist scheidet damit aus – „zumindest dachte man das bis vor zehn Jahren“, korrigiert Scheffler.
Bindung nur bei Mutation
2013 nämlich hatten sich Forscher der University of California in San Francisco das Protein kristallografisch angeschaut und eine Besonderheit entdeckt: Bei der Mutation G12C gibt es ein Cystein in unmittelbarer Nähe zur GTP/GDP-Bindestelle (Nature, 503(7477): 548-51). Die fünf Autoren des Artikels sagten einige Substanzen voraus, die kovalent und damit irreversibel über eine Sulfitbrücke an das Cystein binden und KRAS deaktivieren könnten. „Erst durch die Mutation entsteht überhaupt die Möglichkeit, dort zu binden“, hebt Scheffler einen Vorteil für das Nebenwirkungsprofil hervor.
„Das ist eine Sache, die mir viel zu kurz kommt“, resümiert Scheffler hierzu, „nämlich dass wir uns trauen, Inhibitoren einzusetzen, die eben nicht kompetitiv binden, sondern kovalente Bindungen eingehen“.
Tatsächlich gab es unter den vorausgesagten Inhibitoren vielversprechende Kandidaten, und die Firma Amgen nahm sich vor, daraus ein Krebsmedikament zu entwickeln. 2019 ging sie mit einem Molekül in klinische Studien, das damals noch unter der Bezeichnung AMG 510 geführt wurde (Nature, 575(7781): 217-23). Inzwischen trägt der Wirkstoff den Namen Sotorasib und hat die klinischen Phasen erfolgreich durchlaufen. In der EU ist der KRAS-Inhibitor, den es eigentlich gar nicht geben konnte, seit Januar regulär zugelassen.
Mario Rembold
Dieser Artikel erschien zuerst in ungekürzter Form in Laborjournal 4/22.
Bild: Juliet Merz
(Mehr Illustrationen von Juliet gibt es auf ihrer Behance-Seite)
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