Wo wird NGS in Diagnostik und Therapie in Deutschland bereits erfolgreich angewendet?
Rieß: Die Hauptindikationsgruppen sind die seltenen Erkrankungen, familiäre Tumorerkrankungen und die individuelle, gezielte Tumortherapie. Bei den seltenen Erkrankungen wird an spezialisierten Zentren in Deutschland Gesamtexom-Sequenzierung (Whole Exome Sequencing, WES) angeboten. Weltweit werden vor allem Gen-Panels eingesetzt. Ab Anfang 2024 kann Patienten mit seltenen Erkrankungen, bei denen WES kein Ergebnis gebracht hat, in Deutschland eine Gesamtgenom-Sequenzierung (Whole Genome Sequencing, WGS) angeboten werden, die von den Krankenkassen finanziert wird. Meines Wissens ist das weltweit einzigartig. Wir verhandeln derzeit noch, ob auch die RNA-Sequenzierung mit eingeschlossen wird.
Im Moment lösen wir bei den seltenen Erkrankungen mit Genomanalysen bei 50 % der Patienten die Krankheitsursachen auf, wobei 80 % der seltenen Erkrankungen genetisch bedingt sind. Das bringt eine Kostenersparnis von etwa 7.000 bis 50.000 Euro pro Krankheitsfall. Genomdaten sind allerdings sehr komplex. Für einen noch größeren Aufklärungserfolg fehlen uns umfangreichere Datensätze für die Analyse. Viele epigenetisch verursachte Erkrankungen und Repeat-Expansions-Erkrankungen kennen wir noch gar nicht.
Wie sieht es bei der Therapie von Tumorerkrankungen aus?
Rieß: Bei Krebspatienten, bei denen eine konventionelle Erstlinien-Therapie nicht wirkt, wird an einigen Zentren WES beziehungsweise der Einsatz großer Gen-Panels zur Sequenzierung des Tumorgewebes im Vergleich zum Kontrollgewebe des Patienten angeboten. Die komplette RNA-Sequenzierung ist an manchen Zentren mit integriert, um das Vorhandensein von Fusionstranskripten und Amplifikationen sowie den Verlust der Genexpression in die Therapie-Entscheidung miteinfließen zu lassen. An unserem Zentrum für personalisierte Medizin (ZPM) in Tübingen, geleitet von Nisar Malek, finden wir so bei circa 80 % der Patienten ein klares Therapie-Target, und die Hälfte dieser Patienten spricht extrem gut auf die ausgewählte Therapie an. Sollte der Tumor wiederkommen, können wir ihn erneut sequenzieren und dann vielleicht ein anderes Medikament zielgerichtet einsetzen.
Wo sehen Sie beim Einsatz von NGS in der Diagnostik noch Entwicklungspotential?
Rieß: In Deutschland sterben pro Jahr ca. 240.000 Patienten an Krebs. Um aussagekräftigere Datensätze zu erhalten, müssen wir auf nationaler Ebene analysieren, welche Mutationen dazu führen, dass ein Tumor anspricht oder resistent wird. Dafür brauchen wir einen intensiveren und schnelleren Austausch zwischen den Zentren. Ein großes Potential liegt auch in der Biomarker-Identifizierung anhand von zellfreier Tumor-DNA. Anhand von Blutproben können wir heute schon sehen, ob ein Tumor wiedergekommen ist, und zwar bis zu vier Jahre, bevor Krankheitssymptome auftreten. Diese NGS-Methode sollte daher für besonders aggressive Tumore und für Patienten mit hohem Tumorrisiko angewandt werden.
Wo hat Deutschland Nachholbedarf verglichen mit anderen europäischen Ländern, den USA und China?
Walter: Man kann die verschiedenen Länder und Systeme nicht direkt miteinander vergleichen. Je nach der Struktur der Gesundheitssysteme wurde die Genom-Sequenzierung für die medizinische Diagnostik unterschiedlich gefördert und implementiert. Durch unser föderales System und die Art der Kassenabrechnung waren wir bei den großen Genom-Programmen lange nicht an vorderster Front. Wir haben zum Beispiel keinen zentralen National Health Service (NHS) wie in Großbritannien, über den umfangreiche Genomstudien gefördert werden. Es müssen bei uns viele Akteure mit ins Boot genommen werden. Infrastrukturell ist Deutschland international durchaus kompetitiv. Die Sichtbarkeit wird mit der „Nationalen Strategie für Genommedizin“ (genomDE) hoffentlich bald stärker hervortreten.
Rieß: Bei der Genomanalytik in der Krankenversorgung haben wir in den letzten zwei bis drei Jahren extrem aufgeholt und werden in Kürze führend sein. In der Forschung haben wir jedoch noch großen Nachholbedarf. Mit der „Nationalen Kohorte“ beispielsweise haben wir in Deutschland eine der klinisch am besten charakterisierten Populationen der Welt. Es steht jedoch kein Geld zur Verfügung, diese Kohorte zur sequenzieren. Dies würde wichtige Erkenntnisse bezüglich der Volkskrankheiten bringen. Hier ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefragt, endlich Mittel für die Sequenzierung bereitzustellen. In Großbritannien wurden bereits eine Million Menschen sequenziert. Das Ziel dort ist nun, fünf Millionen Menschen zu sequenzieren. Auch in den USA und China werden wesentlich größere Kohorten sequenziert. Da Gesundheit unser höchstes Gut ist, sollte stark in Krankheitsprävention investiert werden. Genomanalysen können dabei ein maßgeblicher Faktor für individuelle zielgerichtete Risikoreduktion von Erkrankungen sein.
Warum brauchen wir eigenständige nationale Anstrengungen?
Walter: Die Genomforschung ist eine Schlüsseldisziplin. Um Netzwerk-Strukturen wie das DFG-finanzierte Next Generation Sequencing Competence Network (NGS-CN), das Deutsche Netzwerk für Bioinformatik-Infrastruktur (de.NBI) oder das Deutsche Humangenom-Phenomarchiv (GHGA) aufrechtzuerhalten, müssen Förderinstitutionen wie die DFG, das BMBF, das Bundesgesundheitsministerium und die Max-Planck-Gesellschaft zusammenarbeiten, um Synergien zwischen den Netzwerken zu schaffen. Wir müssen eine dauerhafte, nationale, kompetitive Infrastruktur für Forschung und Ausbildung in der Genomforschung etablieren.
Was wird für die kommenden Jahre noch wichtig?
Walter: Genomdaten werden immer komplexer. Für hunderttausende untersuchte Genome und die dazugehörigen weiteren (Omics)-Daten und Metadaten benötigen wir eine koordinierte Strategie für die Datenarchivierung, -analyse und die künstliche Intelligenz (KI)-unterstützte Dateninterpretation. Wir müssen die erzeugten Daten zusammenführen und zentralisiert verarbeiten können. Nur so sind die Daten national geschützt und können gleichzeitig auch noch in 5-10 Jahren genutzt und analysiert werden. Es ist wichtig, sich hier nicht zu sehr von kommerziellen Interessen und Strukturen abhängig zu machen, denn diese können samt ihrer entwickelten Standards auch schnell wieder vom Markt verschwinden. Wir brauchen nachhaltige und sichere Strukturen. Diese Aufgabe hat sich ja zum Beispiel das Deutsche Humangenom-Phenomarchiv (GHGA) als Ziel gesetzt.
Die Interpretation von Genomdaten wird in Zukunft multimodale Ansätze mit einbeziehen, das heißt Kombinationen von genomischen, epigenomischen, Proteom- und Transkriptomdaten, Metagenom- und Metabolomdaten sowie Bilddaten. Hierzu müssen neue bioinformatische Verfahren und Deep-Learning-Ansätze etabliert werden und die Ausbildung junger Wissenschaftler auf diese Anwendungen ausgerichtet werden.
Wie beurteilen Sie die technologische Entwicklung?
Walter: Es wird noch eine Zeit lang ein Nebeneinander verschiedener Sequenzier-Technologien geben. Im Augenblick dominieren Short-Read-Technologien. Für die Genomik werden die Long-Read-Sequenzierer aber immer wichtiger werden. Damit kann man strukturelle Varianten wie Insertionen, Deletionen und Rearrangements besser erkennen. Die neuen Direktsequenzierer können auch epigenetische Informationen wie Methylierungen des Genoms mit auslesen. Sie sind allerdings nicht so genau und benötigen mehr Ausgangsmaterial als die Short-Read-Sequenzierer. Langfristig ist der Ausbau kompatibler europäischer Computer-Netz-Strukturen von essentieller Bedeutung. Das Forschungsnetzwerk Elixir bietet solch einen Rahmen, und GHGA wie auch andere biomedizinische Initiativen sind hier bereits assoziiert. Ein föderiertes europäisches Netzwerk wird das Speichern von Genomdaten harmonisieren und ein sinnvolles Teilen in Europa erleichtern, ohne dass die Daten das nationale Hoheitsgebiet verlassen.
Rieß: In der Diagnostik brauchen wir mehr und schnellere Sequenziergeräte auch in der Fläche, stärkere Automatisierung der Prozesse und einen starken Aufbau an Bioinformatik und Genomanalytik, damit die Patienten nicht auf ihre Diagnose warten müssen, insbesondere schwerstkranke Personen und kritisch kranke Kinder. Für die Auswertung der Genomdaten wird KI an Bedeutung gewinnen. Neben Cloud-basierten Anwendungen gibt es auch dezentrale „Swarm-Learning“-Werkzeuge zum Trainieren von KI, die uns helfen werden, Muster in den komplexen Datensets schneller und besser zu erkennen.
Wo sehen Sie die Haupthandlungsfelder von NGS in der Biomedizin in den kommenden Jahren?
Walter: Neue, hochgenaue und lange Sequenzen lesende Sequenzier-Technologien werden bei der Genomanlyse zunehmend an Bedeutung gewinnen. Für komplexe funktionale genomische Ansätze und die integrierte Interpretation von Multiomics-Daten in Verbindung mit Genomdaten brauchen wir schnelle Computer-basierte Methoden. Es ist sehr zu begrüßen, dass Deutschland sich an internationalen Initiativen beteiligt, wie „1+ Million Genomes“ und „Beyond 1 Million Genomes“, um breite Referenzdaten zu generieren. Wir müssen Grundlagenforschung und Diagnostik zusammenbringen, sodass beide Richtungen voneinander profitieren können.
Die Beratung der Patienten und von gesunden Personen wird immer wichtiger werden. Für deren breite Verfügbarkeit müssen wir umfassende Kapazitäten in der Humangenetik aufbauen. Die Bedeutung der Genomik bei der Aufklärung der Ursachen chronischer Erkrankungen wird zunehmen. Wir werden uns in steigendem Maße mit Humanpathogenen und ihren Auswirkungen auf den menschlichen Organismus beschäftigen. Genomik wird auch zunehmend im Bereich Metagenomik und Mikrobiom eine Rolle spielen, zum Beispiel bezüglich der Auswirkung von Antibiotika und Antiinfektiva. Für Nachwuchsforscher bietet die Schnittfläche zwischen Experiment und Computer-gestützter Analyse spannende Arbeitsfelder.
Das Interview führte Bettina Dupont
Jörn Walter ist Professor für Genetik und Epigenetik an der Universität des Saarlandes. Walter hat die globale epigenetische Reprogrammierung der Mauszygote durch Demethylierung entdeckt. Er ist einer der Gründer des Internationalen Humanen Epigenom-Konsortiums (IHEC) und beschäftigt sich im Netzwerk Single Cell Omics Germany (SCOG) mit Einzelzell-Epigenomik.
Olaf Rieß ist Professor für Medizinische Genetik und Ärztlicher Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und angewandte Genomik in Tübingen, einem DFG-Kompetenzzentrum für Hochdurchsatz-Sequenzierung. Er ist Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen der Universität Tübingen. Sein Hauptinteresse sind die Ursachen von genetisch bedingten Erkrankungen. Rieß ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik e. V.
Bild: Pixabay/MaxPhilip (DNA) + Uniklinik Tübingen (Rieß) + privat (Walter)
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