Editorial

Die Macht der
Namen

(04.07.2022) Wenige Ärzte wissen, wie sich ME/CFS konkret bemerkbar macht. Möglicherweise mitschuldig: irreführende „Zweitnamen“ der Erkrankung.
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Wer, glauben Sie, ist schlechter dran? Ein Patient mit einem „Chronischen Müdigkeits­syndrom“ oder einer mit „Myalgischer Enzephalo­myelitis“? Muskelschmerzen und Entzündungs­vorgänge im Gehirn – anscheinend leidet zweitgenannte Person an einer neurologischen Erkrankung und es geht ihr ziemlich schlecht. Außerdem klingt der Name so medizinisch. „Chronisches Müdigkeits­syndrom“ hingegen? Okay, vielleicht muss der Patient mehr Sport machen und sich gesünder ernähren.

Sie ahnen es: Beide Bezeichnungen stehen für ein und dieselbe Erkrankung, wobei das Wort „Müdigkeits­syndrom“ als äußerst unpassend und irreführend gilt. Besser zum klinischen Bild passt da schon „Chronisches Erschöpfungs­syndrom“ oder „Chronic-Fatigue-Syndrom“. Doch auch dabei denkt manch einer vielleicht eher an den überarbeiteten Start-up-Gründer, der einfach mal ein paar Wochen Kur braucht.

Editorial

Späte Diagnose

Das heute gängige Akronym ist eine Kombination aus den Abkürzungen für „Myalgische Enzephalo­myelitis“ (ME) und „Chronic-Fatigue-Syndrom“ (CFS), nämlich ME/CFS. Im Mai hatten wir hierzu einen Hintergrund­artikel („Patienten und Forscher im Schattenreich“ in LJ 5/2022) zur schleppenden Forschung an Ursachen und Therapien rund um diese Erkrankung – obwohl allein in Deutschland wohl um die 300.000 Menschen erkrankt sind. Im Beitrag erläutern wir auch das Leitsymptom, nämlich eine Belastungs­intoleranz und die sogenannte postexertionelle Malaise (PEM): Wer sich „einfach mal aufrafft“, fühlt sich eben nicht besser, sondern erlebt eine Verschlechterung der Symptome. Dabei kommt es nicht nur zu einer körperlichen und seelischen Erschöpfung, es treten mitunter heftige Symptome wie bei einem akuten Infekt auf, mit geschwollenen Lymphknoten, Fieber oder starken Schmerzen.

Schaut man genauer hin, so findet man oft auch physiologische Marker; diese sprechen für Entzündungs­prozesse im zentralen Nervensystem, ein überaktives fehlgeleitetes Immunsystem und sympathische Überaktivierung – Letzteres passt zum Phänomen, dass Erkrankte trotz Erschöpfung innerlich nicht zur Ruhe kommen. Leider sind diese Biomarker aber aufwendig zu erheben. Ärzte müssen daher ihren Patienten zuhören und die Angaben für die Diagnostik richtig einordnen.

ME/CFS-Betroffene berichten, dass es meist viele Jahre dauert, bis zur korrekten Diagnose. Wie kann eine vergleichsweise häufige Erkrankung unter Ärzten so unbekannt sein? Vielleicht ist daran die uneinheitliche Namensgebung nicht ganz unschuldig. Denn Fatigue kommt als Symptom sehr vieler Erkrankungen vor und ist nicht dasselbe wie CFS. Selbst wenn die Verdachts­diagnose unter diesem Namen in einem Arztbrief landet, wird der nächste Facharzt vielleicht darüber hinweglesen.

Lange bekannt, lange verharmlost

Leonard Jason, Direktor des Center for Community Research der DePaul University in Chicago, arbeitet seit drei Jahrzehnten zu ME/CFS und gehört weltweit zu den Autoren mit den meisten Publikationen zum Thema. Ein zentrales Interesse sind möglichst eindeutige Definitionen der Erkrankung und eine zuverlässige Diagnostik. „Ich denke, ME ist ein passender Name, denn es gibt Evidenz für Entzündungen des Gehirns“, erklärt er. „Die Bezeichnung deckt sich auch gut mit den Symptomen.“

Einen angemessenen Namen hält Jason darüber hinaus für wichtig, damit Patienten nicht stigmatisiert sind. „ME klingt seriöser als Chronic-Fatigue-Syndrom. Denn bei CFS liegt der Fokus nur auf dem Symptom der Erschöpfung. Das viel relevantere Symptom ist aber die PEM.“ Jason betont, dass die Krankheit unter dem Namen „Myalgische Enzephalo­myelitis“ bereits seit 1957 beschrieben ist (Br Med J, 2(5050): 895–904). In besagtem Jahr gab es etliche Fälle beim medizinischen Personal am Royal Free Hospital in London. Melvin Ramsay, damals Arzt an der Klinik, hat diesen Begriff geprägt und schreibt später von der „Royal Free disease“ oder „benign myalgic encephalo­myelitis“.

Obwohl es also seit den 1950er-Jahren einen Namen gibt mit Fokus auf neurologische Auffälligkeiten wurden ähnliche Ausbrüche nicht immer als solche wahrgenommen. So kam es 1965 an einer Mädchenschule zu Erkrankungen mit Symptomen, die jenen aus der Londoner Klinik ähnelten. Ramsay argumentierte damals gegen die Vermutung, es habe sich um eine Massenhysterie unter den Schülerinnen gehandelt. Er nimmt Bezug auf die Daten zur „Royal Free Disease“ und berichtet unter anderem von Patienten mit abnormalem EEG und Hinweisen auf „ernsthafte neurologische Schäden“ (Br Med J, 2(5469): 1062).

Weil vorwiegend Frauen erkranken, könnte manch ein Arzt dem Klischee der „hysterischen Patientin“ erliegen, wie es ja oben genannter Bericht auch nahelegt. Heute würde man zeitgemäßer von einem psychosoma­tischen Krankheitsbild sprechen – was natürlich ebenfalls behandlungs­bedürftig wäre und ebenso Männer treffen kann, aber einem Menschen mit ME/CFS nun mal nicht weiterhilft. In der Recherche zum Thema wurde als Analogie gelegentlich Migräne genannt, die lange Zeit auch nicht als neurologisches Krankheitsbild ernstgenommen, sondern als „Frauenleiden“ abgetan wurde (siehe hierzu auch unser Interview mit Migräne-Spezialist Zaza Katsarava: „Migräne ist viel mehr als bloß Kopfschmerzen“ vom 16.05.2022 auf LJ online).

Klare Kriterien

Jason weist in seinen Publikationen immer wieder darauf hin, dass unklare Definitionen und übersehene oder falsch diagnostizierte Patienten auch die Forschung verwässern: Wer an einer ME/CFS-Studie teilnimmt, eigentlich aber mit einer schweren Depression kämpft, wird auf Therapien nicht ansprechen, die einem ME/CFS-Patienten vielleicht geholfen hätten. Stattdessen könnte laut solch einer Studie mit unscharfen Einschluss­kriterien sportliche Betätigung als symptom­lindernd in Frage kommen – obwohl Anstrengung für einen echten ME/CFS-Patienten fatal sein kann.

Die internationalen Konsensus-Kriterien von 2011 legen daher auch den Fokus auf PEM und schreiben konkret eine „postexertional neuroimmune exhaustion“ als zwingendes Merkmal für die Diagnose vor (J Intern Med, 270(4): 327-38). „Dieses Kardinal­merkmal besteht in einer pathologischen Unfähigkeit, bei Bedarf ausreichend Energie zur Verfügung stellen zu können; mit auffälligen Symptomen hauptsächlich im neuroimmuno­logischen Bereich“, schreiben die Autoren. „Ich glaube schon, dass man Menschen mit dieser Erkrankung identifizieren kann“, erklärt Jason, „aber man braucht geeignete Fragebögen“. Jason und Kollegen erarbeiten und evaluieren hierzu seit 2010 den sogenannten „DePaul Symptom questionnaire“ (Fatigue, 7(3): 166–79).

Zu den Ursachen und Mechanismen hinter ME/CFS gibt es noch viel zu erforschen. In der Regel ist wohl eine meist virale Infektion Auslöser der Erkrankung. Auch unter den von Long-COVID Geplagten dürfte ein erheblicher Anteil die Kriterien für ME/CFS erfüllen. Und hier wird sich erneut das Problem geeigneter Definitionen und abgrenzbarer Diagnosen stellen: Wer Langzeit­symptome wegen Gefäß­schädigungen durch COVID-19 erleidet, wird andere Therapien brauchen als jemand mit eingeschränkter Lungenfunktion. Und keiner von beiden ist zwangsläufig ein ME/CFS-Patient.

Zusammen mit Mohammed Islam hat Jason im März ein fünfstufiges Klassifikations­system zu Long-COVID vorgestellt. Zuvor waren Probanden für diese Arbeit in die Kategorien mild, mittel und schwer unterteilt worden. Hier lagen die Anteile derer, die die Kriterien einer ME/CFS-Diagnose erfüllen, zwischen Null in der „milden“ Stufe und fast 90 Prozent unter den im Alltag schwer beeinträchtigten (CAJMHE, 3(1): 38-51).

BC 007 als Enttäuschung?

Als vielversprechend sowohl gegen Long-COVID als auch ME/CFS wurde bis vor kurzem ein Wirkstoff­kandidat der Firma Berlin Cures angepriesen – ein Aptamer namens BC 007, das auch im LJ-Hintergrund­beitrag erwähnt ist. Es bindet an Autoanti­körper gegen G-Protein gekoppelte Rezeptoren (GPCR), und jene Autoanti­körper findet man sowohl bei einigen ME/CFS-Patienten als auch bei einer Subgruppe der von Long-COVID betroffenen.

Berlin Cures plante eine klinische Studie mit BC 007 zu Long-COVID. Doch ein Team um Bettina Hohberger von der Uniklinik Erlangen sammelte eigeninitiativ Spenden, um auch zu ME/CFS eine Studie mit BC 007 auf die Beine stellen zu können. Dank einer Unterstützung durch das Land Bayern schien die Finanzierung des Projekts eigentlich gesichert. Nun aber will Berlin Cures anscheinend warten, bis BC 007 eine Zulassung bekommt und vorher keine Studien speziell zu ME/CFS unterstützen.

Am 26. Juni twittert Bettina Hohberger: „Die Planungen bis vor wenigen Wochen sahen so aus, dass wir die Studien parallel stattfinden lassen können. Die Finanzierung für beide Studien ist vollständig vorhanden. Berlin Cures wird uns leider keine Präparate für die ME/CFS-Studie zur Verfügung stellen.“ Weiter schreibt sie am selben Tag, dass dies keine vertrauensvolle Zusammen­arbeit sei. ME/CFS-Betroffene auf Twitter zeigen sich verärgert: Berlin Cures habe erst medienwirksam die Werbetrommel gerührt und hülle sich nun in Schweigen.

Wir haben bislang weder von Hohberger noch von Berlin Cures eine Rückmeldung erhalten, sodass wir nur spekulieren oder eben auf Twitter und den Hashtag #bc007 verweisen können. Auf ihrem eigenen Twitter-Kanal hält sich Berlin Cures aktuell bedeckt. Wir fragen uns: Wäre es nicht für die Zulassung und das Wohl aller Erkrankten von Vorteil, in einer Parallel­studie auch ME/CFS einzuschließen? Zumal doch Berlin Cures nichts tun müsste, außer diese Substanz auszuliefern?

Ein Eindruck drängt sich geradezu auf: Betroffene, denen der Wirkstoff helfen könnte, werden nicht allein nach der klinisch passenden Symptomatik in Kombination mit vorhandenen GPCR-Autoanti­körpern ausgewählt, sondern offenbar ist in erster Linie das Label „Long-COVID“ ausschlag­gebend. Einmal mehr fühlen sich so die sehr viel länger erkrankten ME/CFS-Patienten im Stich gelassen und ignoriert.

Nun mag es gute Gründe für die Entscheidung der Berliner Firma geben. Doch diese transparent zu kommunizieren, nachdem zuvor große Hoffnungen gesät worden waren, wäre eigentlich nur fair. Vielleicht ist auch hier wieder der Name entscheidend. Denn zweifellos genießt das Wort „COVID“ eine höhere Aufmerksamkeit als „ME/CFS“.

Mario Rembold

Bild: Pixabay/lucasgeorgewendt


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Letzte Änderungen: 04.07.2022