Editorial

Gut geronnen,
viel gewonnen

(18.07.2022) Selbst ein Zahnarztbesuch kann für Hämophilie-Patienten riskant sein. Zum Glück gibt es bald eine Gentherapie. Wie gut sie ist, wird sich zeigen.
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Hämophilie gehört zu den seltenen Krankheiten. Betroffen sind fast ausschließlich Männer, denn die Gendefekte liegen auf dem X-Chromosom. Bei Hämophilie A (1/5.000 Männern) ist das Problem der Gerinnungs­faktor VIII; bei der noch selteneren (1/30.000 Männern) Hämophilie B mangelt es am Gerinnungs­faktor IX.

Ob A oder B macht für Patienten in ihrem Alltag kaum einen Unterschied, denn die Konsequenz der zugrunde­liegenden Gendefekte ist die gleiche. Sie neigen zu Blutungen, weil das Blut an einer Wunde nicht gerinnt. Mangels ausreichendem Blutspiegel an funktio­nierendem Gerinnungsfaktor kann die kleinste Verletzung fatal enden. Gärtnern neben der Brombeer­hecke oder eine Routine­behandlung beim Zahnarzt werden zum Risikoevent. Patienten fallen gemäß ihres Spiegels an körper­eigenem Gerinnungs­faktor (<1 % der Norm: schwer; 1-5 %: moderat, 5-40 %: leicht) in drei definierte Schweregrade.

Editorial

Stark beeinträchtigt

Die gängige Therapie besteht darin, das Blut der Patienten prophylaktisch oder im akuten Bedarfsfall mit dem fehlenden Gerinnungs­faktor zu supplementieren. Das entsprechende Protein wird entweder rekombinant produziert oder aus Plasmaspenden angereichert. Dass der häufige Gang zur Behandlung, die ständigen Infusionen und das damit verbundene Infektions-/Kontamina­tionsrisiko auf Kosten der Lebensqualität geht, steht außer Frage. Ihre Lebensqualität bewerten Betroffene mit „moderater“ Hämophilie fast ähnlich stark beeinträchtigt wie jene mit „schwerer“ Hämophilie (Orphanet J Rare Dis, 17(1):150).

Genthera­peutische Ansätze verheißen eine nachhaltige Erleichterung für Hämophilie-Patienten. Anstelle des fehlenden Gerinnungs­faktors in Proteinform, das dem natürlichen Abbau unterlegen ist, soll das codierende Gen heilend wirken. Die Frequenz nötiger Behandlungen würde massiv sinken und wäre im Idealfall überhaupt nur ein einziges Mal nötig. Die Kosten sind, wie bei Therapeutika für seltene Krankheiten üblich, enorm. (So kostet aktuell eine 56-Stück-Packung des Mukoviszidose-Medikaments Kalydeco rund 14.000 Euro.) Dieser hohen Einmal­investition stehen die regelmäßigen, ebenfalls teuren Infusionen gegenüber, von den sozioökono­mischen Kosten (Arbeitsausfall etc.) ganz zu schweigen.

Gentherapie für schwere Fälle

Für ein Genthera­peutikum zur Behandlung von Hämophilie A hat die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA jüngst eine bedingte Zulassung empfohlen. Die finale Entscheidung seitens Europäischer Kommission steht noch aus. Es ist für schwere Fälle gedacht, solche also, bei denen sich (noch) keine Antikörper gegen den Gerinnungs­faktor VIII gebildet haben. Diese Inhibitoren würden das Therapeutikum einfach neutralisieren und somit auch den Therapie­erfolg auf Null setzen. Weiteres Knockout-Kriterium sind Antikörper gegen das Adeno-assoziierte Virus, Serotyp 5 (AAV5), denn auf diesem Vektor beruht die Therapie schließlich. Solche Antikörper sind gar nicht so selten und könnten auch anderen AAV5-basierten Gentherapien in die Quere kommen (Gene Ther, 24(12):768-78).

„Roctavian“ – oder „valoctocogene roxaparvovec“ –  heißt der Hoffnungs­träger, der per einmaliger Infusion im Patienten landen und Zellen nachhaltig zur eigen­ständigen Produktion des Gerinnungs­faktors befähigen soll. Mit einem Replikations-inkompetenten AAV5-Vektor wird das FVIII-Gen eingeschleust. Das für humane Zellen codon-optimierte Gen steht unter Kontrolle eines kurzen leber­spezifischen Promoters (HLP). Seine B-Domäne wurde gekappt. Sie ist verzichtbar und würde sich nur negativ auf die Expressions­effizienz und Cargogröße (Roctavian ist mit 4,97 kb knapp unter der 5-kb-Maximal­kapazität von AAVs) auswirken. (Prä-)klinischen Studien waren vielversprechende Tests an Mäusen und Primaten vorausgegangen: „At the highest dose tested, complete correction was achieved“. Damals, also 2018, jedoch noch unter der weniger heroisch klingenden Wirkstoff-Bezeichnung „BMN 270“ (Mol Ther, 26(2):496-509).

Zurückgezogene Zulassung

Wie lange Roctavian tatsächlich wirkt, muss sich zeigen. Die bisher längsten positiven Behandlungs­effekte gibt es von einigen Patienten, die im Rahmen einer klinischen Studie vor fünf Jahren ihre Infusion bekommen hatten.

Vor zwei Jahren noch hatte der Roctavian-Entwickler BioMarin Pharmaceutical Inc., ein kalifornisches Biotech-Unternehmen mit Außenstellen weltweit, den Zulassungs­antrag an die EMA zurückgezogen. Sie konnten die vom Committee for Advanced Therapies (CAT) verlangten Daten nicht zur Verfügung stellen: „BioMarin has determined that it will not be able to provide the data requested to resolve the CAT’s major objection related to the results of clinical studies within the current procedure“, heißt es in einem Brief an die Zuständigen der EMA.

Nun scheint alles zu passen. Das Unternehmen ist spezialisiert auf Enzym-Ersatztherapien, und das offenbar erfolgreich. 2020 lag der Umsatz beinahe bei 1,9 Milliarden US-Dollar. Das könnte sich noch dramatisch steigern, wenn man auf den rasant wachsenden Markt und Prognosen in Advanced Therapy Medicinal Products (ATMPs), zu denen Roctavian als Gentherapie nun einmal gehört, blickt. Laut einer großen Umfrage der Charité aus dem vorletzten Jahr sollte die EU auch viel mehr in Gentherapie(-Entwicklungen) investieren (Front Med, 8:739987). Hier haben uns die Briten, deren Forschung zu Gentherapie boomt, einiges voraus. In vielen anderen Ländern sind nicht einmal die Hämophilie-Fallzahlen gescheit erhoben.

Andrea Pitzschke

Bild: Pixabay/BlenderTimer


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Letzte Änderungen: 12.07.2022