Editorial

Warum Mendel
und nicht Darwin?

(22.07.2022) Diese Woche wäre Gregor Mendel 200 Jahre alt geworden. Eine – gewissermaßen indirekte – Würdigung, ohne nochmals seine Vererbungsregeln zu erklären.
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Vorgestern, am 20. Juli, jährte sich Gregor Mendels Geburtstag zum zweihundertsten Mal. Was soll man angesichts dieses Jubiläums noch über den Augustiner-Priester und Abt der Brünner Abtei St. Thomas schreiben? Nochmals referieren, wie er aus seinen Kreuzungsversuchen im Klostergarten samt nachfolgender „Erbsenzählereien“ die partikuläre Natur der Erbeinheiten postulierte und die Vererbungsregeln ableitete? Das dürfte zumindest unserer Leserschaft wohl gut bekannt sein. Zudem ist es anderswo mannigfach in viel größerem Detail beschrieben, als es in dieser kurzen Kolumne möglich wäre (siehe etwa hier).

Weniger bekannt – auch wenn wir selbst bereits hier darüber geschrieben hatten – ist sicherlich, dass Mendels große Leistung vor allem darin bestand, dass er vor allen anderen verstand, was die Zahlenverhältnisse der Erbsen-Merkmale, die er aus seinen Kreuzungsversuche erhielt, grundsätzlich für die Vererbung bedeuteten. Denn Mendel war zu dieser Zeit beileibe nicht der einzige, der Kreuzungsversuche mit irgendwelchen Organismen durchführte. So beschrieb vor Mendel beispielsweise der französische Botaniker Augustine Sageret Hybridisierungs-Experimente mit Varietäten der Zuckermelone, deren Ergebnisse ihn gut in Richtung der Vererbungsregeln hätten stoßen können.

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Mendel nahe und doch weit weg

Wie nahe Sageret und andere Mendel letztlich kamen – oder wie weit sie vielmehr dennoch von ihm wegblieben –, beschrieb der Wissenschaftshistoriker Sander Gliboff von der Indiana University vor einigen Jahren folgendermaßen:

„Es gibt einige Berichte, die den Anschein von dem erwecken, was im Nachhinein Mendelsche Dominanz und Segregation genannt wurde. Thomas Andrew Knight (1759-1838), John Goss (1800-1880) und Thomas Laxton (1830-1893) in England, Giorgio Gallesio (1772-1839) in Italien, Augustin Sageret (1763-1851), Charles Naudin (1815-1899), Louis Vilmorin (1816-1860) und Henry Vilmorin (1843-1899) in Frankreich sowie andere stellten fest, dass die erste Hybridgeneration entweder einheitlich war und dabei entweder dem einen oder dem anderen Elternteil ähnelte – oder dass sie eine einheitliche Zwischenform annahm. Ebenso stellten sie fest, dass diese einheitliche Generation in der nächsten Generation eine Mischung der elterlichen Merkmale hervorbringt. Einige verwendeten sogar vergleichbare Begriffe wie Mendel für diese beiden Phänomene. Sageret und Gallesio sprachen von der "Dominanz" eines Merkmals über das andere in ihren Hybriden, Naudin von der „Disjunktion“ der elterlichen Wesensmerkmale in der zweiten Generation.

Aber das ist nur die Hälfte der Geschichte. Hebt man lediglich darauf ab, wer mit welchen Methoden und Resultaten Mendels Erkenntnissen nahe kam, verschleiert die eigentlichen Ziele ebendieser Forscher – und impliziert damit, dass sie nachlässige Wissenschaftler waren. Oder eben kurzsichtige, die nicht sehen konnten, was für Mendel offensichtlich war. Und umgekehrt vermittelt es ein verzerrtes Bild des intellektuellen und disziplinären Kontexts, in dem Mendel arbeitete und zu dem er versuchte, einen Beitrag zu leisten.“

Darwin hatte die "richtigen" Zahlen

Gerade dies wird im Zusammenhang mit Mendels Vererbungsregeln indes viel schöner durch ein weiteren sehr prominenten Forscher illustriert, den Gliboff interessanterweise nur kurz erwähnt: Charles Darwin. Denn auch dieser hatte unabhängig von Mendel aus Zuchtversuchen mit Löwenmäulchen in seinem Garten die „richtigen“ Zahlen offenbar auf seinem Schreibtisch. Auf Seite 70 seines Buches „The variation of plants and animals under domestication“ begann er jedenfalls einen Absatz mit den Worten: „Nun kreuzte ich pelorische Löwenmäulchen (Antirrhinum majus) [...] mit Pollen der gewöhnlichen Form; und letztere wiederum mit pelorischem Pollen ..." Als Ergebnis stellte Darwin schließlich fest, dass die F1-Nachkommenschaft „dem gewöhnlichen Löwenmäulchen vollkommen glich" – also eine Dominanz des Wildtyps. Weiter hält er dann fest, dass er in der F2-Generation 88 Wildtyp- und 37 pelorische Formen erhielt, „die zur Struktur ihres einen Großelternteils zurückgekehrt waren“. Nimmt man die Originalzahlen aus Mendels Erbsenkreuzungen hätte der Augustinermönch auch Darwins Löwenmäulchen-Ergebnis ohne weiteres als 3:1-Verhältnis akzeptiert – was bekanntlich die Schlüsselerkenntnis auf Mendels Weg zur endgültigen Formulierung der Vererbungsgesetze war.

Trotz weiterer auffälliger F2-Daten, die Darwin in dem Buch beschreibt, darunter etwa auch welche aus Primel-Kreuzungen, bietet er nirgendwo einen Hinweis darauf, dass er die entscheidende Bedeutung dieses wiederkehrenden 3:1-Verhältnisses für die Vererbung verstanden hatte. Oder vielleicht hatte Darwin das Ganze zwar irgendwie verstanden, aber die herausragende Bedeutung völlig unterschätzt. Schließlich galt seine Konzentration bei den Kreuzungsversuchen vollends den kleinen quantitativen und kontinuierlichen Merkmalsvariationen als das Rohmaterial der Evolution – und hat ihm daher am Ende komplett den Blick auf die Möglichkeit verstellt, die Gesetze der Vererbung zu entdecken.

Nur für Züchter interessant?

Jonathan Howard, ehemaliger Professor für Genetik an der Universität Köln, lieferte in einem Artikel mit dem Titel „ Why didn't Darwin discover Mendel's laws?“ (J. Biol. 8: 15) jedenfalls eine ähnliche Antwort: 

„Offensichtlich war Darwin nicht auf der richtigen Wellenlänge, um Vererbungsdaten aus Kreuzungen mit Einzelmerkmalen verwenden zu können. Warum eigentlich nicht? Das Material war vorhanden, und das Problem der Vererbung war offenkundig ungelöst und wichtig. [...] Die Erklärung, warum Darwin sich von der Vererbung von Einzelmerkmalen als möglichem Weg zur Lösung des allgemeinen Vererbungsproblems abwandte, war schlichtweg, dass er nicht glaubte, dass solche Merkmale irgendetwas mit der Art von Variationen zu tun hatten, die er für das Rohmaterial evolutionärer Veränderungen hielt. Solche qualitativen und auffälligen Variationen bezeichnete er als „Sports“. Sie mögen für die Züchter von ausgefallenen Pflanzen und Tieren nützlich sein, aber obwohl die künstliche Auslese solcher anomaler Varianten eine Analogie zur Evolution durch natürliche Auslese darstellen könnte, war dies für ihn nicht das wahre Ding. [...] 

Wenn es Darwin also nicht gelang, die Mendelschen Gesetze zu entdecken, so lag das nicht so sehr daran, dass es ihm an Genialität, Rechenfertigkeit oder Experimentierfreudigkeit fehlte, sondern vielmehr an dem starken Trend dessen, was er bereits in seinen Händen hatte. [...] Daher war für Darwin die kontinuierliche Variation als Verursacher des evolutionären Wandels der Weg nach vorn – und nicht einzelne diskrete Merkmale. In der kontinuierlichen Variation jedoch konnte Darwin die Gesetze der Vererbung nicht erkennen; und zugleich war er nicht in der Lage, die wirkliche Bedeutung der diskontinuierlichen Variation zu erkennen, in der die Gesetze der Vererbung letztlich hervortreten.“

Scheint also, dass in einem Kopf, der bereits eine große Idee ausbrütet, kein Platz mehr für eine weitere ist. Und mag dieser Kopf auch noch so groß sein. 

Auch wenn wir damit jetzt eigentlich mehr über Darwin schwadroniert haben als über das „Geburtstagskind“ Mendel, so zeigt doch gerade dies, wie groß dessen Leistung tatsächlich war. Es waren nicht die Daten, die er mit seinen Erbsen produzierte – die waren ähnlich bereits vielfach woanders vorhanden. Es war vielmehr das, was er aus ihnen schlussfolgerte – und das war neu und groß! Nicht zuletzt, weil er bereits zuvor die richtigen Fragen gestellt hatte und mit dem „Datenmachen“ ein wohldefiniertes Problem auf dem richtigen Pfad anging.

Ralf Neumann

(Illustr.: LJ)

 

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Letzte Änderungen: 19.07.2022