Editorial

Das unterschätzte
Problem

(15.08.2022) Husten, Kopfschmerzen, Schlafstörungen – auch Kinder können unter Long-COVID-Beschwerden leiden. Ursachenforschung in Jena und Regensburg.
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Trotz steigender Infektionsraten bleiben die Schutz­maßnahmen bislang auf das Mindeste reduziert. Ein Grund hierfür ist die Annahme, dass die aktuell vorherrschenden Virusvarianten insgesamt zwar sehr infektiös, dafür aber weniger pathogen sind. Diese Entwicklung sehen viele Mediziner mit Besorgnis, denn das akute Krankheits­geschehen ist bei COVID-19 vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. So werden immer mehr Fälle dokumentiert, bei denen selbst bei sehr milden oder asympto­matischen Verläufen anschließend Spätfolgen auftreten, die die Betroffenen über viele Wochen bis Monate belasten können.

Die Erforschung dieses inzwischen als Long COVID bekannten Phänomens steckt noch in den Anfängen. Besonders vernachlässigt wurden dabei bisher Kinder unter elf Jahren. Das liegt einerseits daran, dass diese mit ihren meist milden Krankheits­verläufen quasi unter dem Radar laufen, andererseits aber auch daran, dass vor allem kleine Kinder Beschwerden oft nur unklar äußern können. Viele Beschwerden werden bei ihnen deshalb vorschnell als Folgen der Kontakt­beschränkungen und Schul­schließungen angesehen, so etwa Konzentrations- und Schlafprobleme. Erst mit zunehmendem zeitlichem Abstand zu den Lockdowns in den Jahren 2020/21, wird klar, dass diese Erklärung zu kurz gegriffen ist. Long COVID erhält bei Kindern durch ihre noch immer sehr niedrigen Impfraten eine besondere Brisanz. So ist bislang für Kinder unter fünf Jahren kein Impfstoff zugelassen und in der Altersklasse bis 11 Jahren sind in Deutschland aktuell nur 20,1 % mit zwei Impfungen grundimmunisiert (Statista, Stand 01. August 2022).

Editorial

Long COVID als Überbegriff

Unter dem Begriff Long COVID verbirgt sich kein einheitliches Krankheitsbild. Tatsächlich fasst er laut WHO-Definition zuerst einmal zwei Beobachtungen zusammen: So halten bei manchen COVID-19-Patienten die Krankheits­symptome bis zu zwölf Wochen nach Krankheits­ausbruch an; man spricht hier von einer fortwährend sympto­matischen Erkrankung. Symptome, die über diesen Zeitraum hinaus anhalten oder erst später auftreten, fallen unter die Bezeichnung Post COVID. Long COVID ist also ein Überbegriff, der alle Symptome zusammenfasst, die länger als vier Wochen nach der Primär­erkrankung bestehen bleiben.

Und das können mehr als 200 verschiedene sein: Als starker Hinweis auf eine COVID-19-Erkrankung gilt eine Störung des Geruchs- und seltener des Geschmacks­sinns. Häufige Spätfolgen sind außerdem ein belastender und anhaltender Erschöpfungs­zustand (Fatigue), der sich oft durch normale körperliche Aktivität verschlimmert, Kopfschmerzen, anhaltender Husten, oft als Ausdruck einer bronchialen Hyper­reagibilität wie sie von anderen Virusinfekten bekannt ist, sowie Konzentrations- und Schlafstörungen. Bei der Vielzahl der Symptome, die alle auch bei anderen Krankheiten auftreten können, ist die Diagnose­stellung schwierig. Deshalb ist Long COVID immer eine Ausschluss­diagnose, die gestellt wird, wenn keine andere Ursache für die Symptome gefunden wird und bekannt ist, dass eine COVID-19-Erkrankung voraus­gegangen ist. Hinzu kommt, dass die Symptome für die Patienten im Alltag eine Belastung darstellen müssen.

Mehr Fragen als Antworten

Die Schätzungen darüber, wie viele Kinder von Long COVID betroffen sein könnten, gehen derzeit, laut Daniel Vilser vom Unikinder­klinikum Jena, noch stark auseinander (Pädiatrie, 34:20-5). In verschiedenen Studien beispielsweise in Dänemark und Großbritannien mit jeweils mehr als tausend Kindern in der COVID-19- und der Kontrollgruppe wurden Prävalenzen von zwischen 0,8 % und 13,3 % errechnet. Eine Prävalenz von 0,8 % scheint niedrig zu sein, doch relativiert sich das bei den momentan hohen und weiter steigenden Infektions­zahlen schnell. Welche Risikofaktoren Long COVID begünstigen, ist noch kaum bekannt, nur dass die Fälle mit steigendem Alter zunehmen und dass Mädchen häufiger betroffen sind. Im Alltag besonders belastend für die Betroffenen scheinen die Fatigue-Symptomatik und ein als „brain fog“ bezeichneter Komplex aus mentalen Funktions­störungen zu sein.

Derzeit werden verschiedene Ursachen für Long COVID diskutiert. Möglicherweise aktivieren im Körper verbliebene Viren oder Viren­bestandteile die Immunabwehr und sorgen so für andauernde Entzündungen, die Organe und Gewebe schädigen. Überschießende Immun­antworten könnten wie bei Autoimmun­erkrankungen auch durch Autoantikörper befeuert werden. Dagegen spielen direkte Organschäden durch die akute Infektion aufgrund der tendenziell milderen Verläufe wohl eine weniger große Rolle als bei Erwachsenen. Möglich wäre auch, dass eine Entzündung des Endothels – der Gewebeschicht, die die Blutgefäße auskleidet – zusammen mit einer veränderten Verformbarkeit von Blutzellen die Mikro­zirkulation beeinträchtigt.

Deutschlandweite Studie LongCOCid

Eine spezifische Behandlung für Long COVID gibt es derzeit nicht, alle Therapien orientieren sich an den Symptomen. Der vom Bundesforschungs­ministerium geförderte Forschungsverbund LongCOCid hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, die Datenlage zu COVID-19-Spätfolgen so zu verbessern, dass diagnostische und therapeutische Leitlinien erstellt und Rehabilitations­programme für Kinder und Jugendliche eingerichtet werden können. An dem Projekt beteiligt sind das Universitäts­klinikum Jena, die Technische Universität Ilmenau, die Universität Magdeburg und die Hochschule Mannheim. Koordiniert wird LongCOCid von bereits erwähntem Daniel Vilser, der als Oberarzt in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitäts­klinikums Jena eine Long-COVID-Ambulanz unterhält. Ziel des Kinder­kardiologen ist es, die Beschwerden bei Long COVID systematisch zu erfassen. „Zu uns kommen Familien, deren Kinder in der Regel über mehr als 2-3 Monate Beschwerden haben“, so Vilser. Die Ärzte versuchen dann, die Beschwerden bestmöglich zu lindern.

Im Forschungsverbund soll vorrangig nach Biomarkern gesucht werden, welche die Diagnose Long COVID erhärten können. „Außerdem glauben wir nicht daran, dass es sich bei Long COVID um ein einheitliches Krankheitsbild handelt, und versuchen die Ursache und Entstehung der Beschwerden möglichst genau zu klassifizieren, um dann im nächsten Schritt spezifische Therapie­ansätze zu entwickeln.“

Vier Kooperationspartner

Die Rekrutierung der Patienten läuft vollständig über die Long-COVID-Sprechstunde am Uniklinikum Jena. Dort kommen bildgebende und funktionelle Untersuchungen von Herz und Lunge zum Einsatz, dazu Belastungstests sowie Blutunter­suchungen, bei denen Entzün­dungsmarker festgestellt werden. „Mit einem in Jena entwickelten Verfahren wollen wir außerdem die Reaktions­fähigkeit der Blutgefäße auf Stressoren untersuchen“, fügt Vilser hinzu. Dafür werden die Gefäße am Augenhinter­grund mit speziellem Flickerlicht konfrontiert; ihre Reaktion lässt auf den Zustand der Blutgefäße im restlichen Körper schließen.

Für die technische Umsetzung und statistische Auswertung dieser Methode ist die Gruppe von Sascha Klee von der TU Ilmenau verantwortlich. In Magdeburg untersucht die Gruppe von Monika Brunner-Weinzierl die Reaktion des Immun­systems auf die Infektion, in der Hoffnung, in entzündungs­fördernden Cytokinen, Autoantikörpern oder Allergie-auslösenden Faktoren geeignete Biomarker für Diagnose und Vorhersage des Krankheits­verlaufs zu finden. An der Hochschule Mannheim, dem erst kürzlich dazugekommenen Kooperations­partner, beschäftigen sich Marion Baldus und ihr Team von der Fakultät für Sozialwesen mit der Belastung, die eine Long-COVID-Erkrankung für die betroffenen Familien bedeutet.

Bayernweite Initiativen

Im Projekt „Follow CoKiBa“ versucht die Universitäts­medizin Regensburg gemeinsam mit niedergelassenen Kinderärzten ebenfalls zu ermitteln, wie die Spätschäden von COVID-19 verhindert oder behandelt werden können. Voraus­gegangen war im Frühjahr 2020 eine Studie zu Coronavirus-Antikörpern bei Kindern in Bayern (CoKiBa) unter der Leitung von Michael Kabesch von der Kinder-Universitätsklinik Ostbayern. Im Rahmen der Studie waren insgesamt 162 von 2.832 Kindern positiv getestet worden (Front Pediatr, 9: 678937). Bemerkenswert war, dass die SARS-CoV-2-positiven Kinder überwiegend sehr hohe Antikörper­werte aufwiesen. „Langfristig reagieren Kinder immunologisch anders auf COVID-19 als Erwachsene”, schlussfolgert Koordinator Kabesch gegenüber dem Ärzteblatt.

Auf ihrer Projekt-Website äußern die Mediziner die Vermutung, dass die hohen Antikörper­zahlen ein Vorteil während des akuten Infektions­geschehens sein könnten, später aber möglicherweise zur Entwicklung von Spätfolgen und insbesondere dem Pädiatrischen Multiorgan-Immun­syndrom (PMIS) beitragen. Bei diesem handelt es sich um eine hoch akute Krankheit, die zwei bis sechs Wochen nach einer milden oder asympto­matischen COVID-19-Infektion insbesondere bei Kindern und jungen Erwachsenen auftreten kann. „Follow CoKiBa“ möchte deshalb Risiko-Kinder frühzeitig identifizieren.

Im Herbst 2021 ist auch „Post Covid Kids Bavaria“, ein Modellprojekt des Bayerischen Gesundheits­ministeriums, an den Start gegangen. Erste Ergebnisse haben Forschende um Ferdinand Knieling von der Arbeitsgruppe Pädiatrische Experimentelle und Translationale Bildgebung der Kinder- und Jugendklinik am Uniklinikum Erlagen bereits im Preprint bei medRxiv publiziert (LINK). Sie konnten Veränderungen im Lungengewebe nachweisen, die bei Long-COVID-Patienten (zwischen 5 und 18 Jahren) ausgeprägter waren als bei genesenen Patienten und teilweise bis zu elf Monate nach der akuten COVID-19-Erkrankung bestehen blieben.

Larissa Tetsch

Bild: Pixabay/congerdesign

Nachtrag aus der Redaktion:
In einem kürzlich veröffentlichten medRxiv-Preprint identifizierte ein Team der Yale School of Medicine die ersten eindeutigen Kennzeichen einer Long-COVID-Erkrankung (LINK). Allerdings erstmal „nur“ bei Erwachsenen. Dazu gehören etwa eine erhöhte Zahl an erschöpften („exhausted“) T-Zellen, aktivierten B-Zellen und sogenannten non-classical monocytes. Besonders auffällig war jedoch ein im Vergleich zur Kontrollgruppe niedriges Level des Stresshormons Cortisol, das normalerweise als Immunsystem-Dämpfer wirkt. Co-Autorin Akiko Iwasaki erklärt die Ergebnisse sehr anschaulich auf Twitter.


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Letzte Änderungen: 15.08.2022