Editorial

Signalweg
außer Kontrolle

(05.09.2022) Mutiertes Gen, verstümmelter Rezeptor – Berliner und Greifswalder Forscher decken die Ursache hinter der seltenen Köhlmeier-Degos-Krankheit auf.
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Sie liest sich erschütternd, die Krankheits­geschichte eines Mädchens, das im August 2019 in die Charité eingewiesen wurde. Im Laufe seines jungen Lebens schien ihm kaum ein Leid erspart: Kopfschmerzen als Fünfjährige, Glaukom auf beiden Augen, gefolgt von Erblindung mit 9 Jahren. Neben dem Seh- hat das Kind auch das Hörvermögen verloren. Schäden an inneren Organen und dem Nervensystem deuteten auf unkontrollierte Entzündungs­reaktionen hin. Dass etwas ganz und gar nicht stimmt, bestätigten MRI-Analysen des Gehirns. Mama und Papa sind gesund, und Geschwister gibt es nicht.

Dieses komplexe Krankheitsbild konnten die behandelnde Ärzte schließlich der Köhlmeier-Degos-Krankheit zuordnen, benannt nach dem Wiener Pathologen Walter Köhlmeier und dem Pariser Dermatologen Robert Degos, die sie um 1940 unabhängig voneinander beschrieben und als eigenständige Krankheit erkannt haben (LINK zum Köhlmeier-Paper). Es ist eine extrem seltene Krankheit mit wenigen hundert erkannten Fällen weltweit, möglicherweise aber mit einer hohen Dunkelziffer. Effektive Therapien gibt es bislang keine. Der Verlauf bei dem Mädchen war besonders schlimm.

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Frei schwimmendes Protein

Nach Analysen am Institut für Medizinische Biochemie der Universität Greifswald war klar, dass eine überaktive Immunantwort der Erkrankung zugrunde lag. Genauer: Der Interferon-Signalweg war außer Kontrolle. Sequenzierungen des Exoms, also der codierenden Bereiche des Genoms, brachten die genetische Ursache ans Licht, eine Mutation im IFNAR1-Gen (interferon α/β receptor subunit 1). Sie führt dazu, dass nur eine verstümmelte Variante des Rezeptors gebildet wird: Transmembran- und cytosolische Domäne fehlen.

Die Forscher hypothetisierten daher, dass mangels Verankerung das verkürzte Rezeptorprotein frei schwimmen und den Interferon-Signalweg übermäßig aktivieren würde. Der Verdacht erhärtete sich mit jedem weiteren Experiment. Expressions­studien in transformierten Mikrogliazellen ergaben, dass die mutierte Variante zu verkürzten Transkripten führt. Im Western Blot schien die Wildtyp-Form des Proteins nur in Zelllysaten auf; die mutierte, verkürzte Form hingegen außerdem im Zellüberstand. Auch im Serum der Patientin fand sich die frei schwimmende, verkürzte Interferon-Rezeptor-Variante. Interferon-responsive Gene waren überaktiviert, und als die Forscher zu normalen Mikrogliazellen Serum der Patientin zugaben, spielte auch deren Interferon-Signalweg verrückt.

Kombinierter Durchbruch

Somit kam als Behandlung ein für Interferon-Abnormalitäten verwendeter Januskinase-1/2-Inhibitor namens Baricitinib infrage. Damit ließ sich das Mädchen zunächst klinisch stabilisieren, doch eine nachhaltige Verbesserung blieb aus. Eine Therapie­möglichkeit sahen die Forscher noch: Es gibt einen humanen monoklonalen Immunglobulin-G1-kappa-Antikörper, der mit hoher Spezifität und Affinität an die Untereinheit 1 des Typ-I-Interferon-Rezeptors (IFNAR1) bindet – an einen Bereich, der in der verstümmelten Variante präsent ist. Die Aktivität von Interferon-alpha, -beta und -kappa wird dadurch blockiert.

Das Medikament Anifrolumab, welches für Erwachsene mit systemischem Lupus erythematodes, einer Autoimmun­erkrankung, entwickelt wurde, war zwar noch nicht zugelassen, aber in diesem Fall alternativloser Hoffnungsträger. Intravenöse Behandlung im Vier-Wochen-Takt brachte noch keinen Durchbruch. Der kam erst, als die Ärzte Baricitinib und Anifrolumab in Kombination verabreichten. Die Interferon-Werte normalisierten sich, und das Fortschreiten der Krankheit konnte gebremst werden. Ob diese Behandlung auch anderen Köhlmeier-Degos-Erkrankten Erleichterung verschaffen kann, muss sich zeigen.

Andrea Pitzschke

Becker L. et al. (2022): Interferon receptor dysfunction in a child with malignant atrophic papulosis and CNS involvement. Lancet Neurology, 21(8):682-6

Bild: Juliet Merz

Mehr Illustrationen von Juliet gibt es auf ihrer Behance-Seite.


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Letzte Änderungen: 05.09.2022