Editorial

Die Pocken im
Wandel der Zeit

(22.09.2022) Von Gerstentrunk über Zinkpulver bis Schlauchpflanzen-Sud – Jahrhunderte hatte man gegen die Pocken fast nichts in der Hand. Ein Blick zurück.
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Pocken oder Beulenpest? Im Mittelalter war die Menschen vielen Erregern hilflos ausgesetzt.

Hier liegen sie, streng bewacht hinter verschlossenen Labortüren in Atlanta und dem sibirischen Koltsovo, die letzten Proben des Variolavirus – wenn nicht in lange unbenutzten Labor-Kühlschränken noch der ein oder andere Virusrest auftaucht („Six vials of smallpox discovered in US lab“, ScienceInsider, 2014). Seit dem 8. Mai 1980 jedenfalls gilt der Erreger der Pocken in der Natur als ausgestorben. Über dieses Datum ist man sich einig – wie lange das Virus davor auf der Erde zirkuliert hat eher weniger.

Infizierte das Variolavirus etwa schon die alten Pharaonen? Oder die alten Römer? Zumindest die Antoninische Pest, die von 165 bis 180 im römischen Reich grassierte, könnte von dem Virus verursacht worden sein. Der griechische Arzt Galen beschrieb den Krankheits­verlauf so: „Zu dieser Zeit brach am neunten Tag ein junger Mann am ganzen Körper an Geschwüren aus […]. An diesem Tag gab es auch einen leichten Husten. Am nächsten Tag, unmittelbar nachdem er gebadet hatte, hustete er heftiger und brachte mit dem Husten etwas hervor, das sie Schorf nennen“. Der junge Mann überstand die Krankheit, viele andere vielen der Seuche jedoch zum Opfer. Vor allem die erwähnten Geschwüre in Galens Notizen erinnern stark an die Pocken. Aber auch die Masern kommen in Betracht.

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Variola bei den Wikingern

Fünfhundert Jahre später mussten sich die Wikinger mit ziemlicher Sicherheit schon mit dem Variolavirus rumschlagen. Das schreiben zumindest Archäo­genetiker Eske Willerslev und Kollegen, darunter die Virologen Gerd Sutter und Christian Drosten, nachdem sie das Virus an 13 Gebeinen aus Wikinger-Grabstätten (600 bis 1050 n. Chr) nachgewiesen hatten (Science, 369(6502):eaaw8977). Allerdings unterschied sich die gefundene Wikinger-Virus-Variante sehr deutlich vom modernen Variolavirus des 20. Jahrhunderts. Gene, die in der modernen Variante durch Mutationen inaktiviert sind, waren vor 1.000 Jahren aktiv oder andersherum. „Einige dieser Gene beeinflussen unter anderem die Spezifität von Pockenviren für ihren Wirt“, erklärt Erstautorin Barbara Mühlemann in der dazugehörigen Presse­mitteilung. „Das Aktivitätsmuster im Pockenvirus der Wikingerzeit könnte bedeuten, dass das Virus damals nicht nur den Menschen, sondern auch Tiere befallen konnte.“

Sprung ins Mittelalter: Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Pocken schon weltweit ausgebreitet und machten auch vor Königshäusern nicht Halt. Zu den berühmteren Pocken-Patienten zählte die englische Königin Elizabeth I., die im Oktober 1562 erkrankte, sich nach einem recht heftigen Verlauf aber wieder erholte und ihr Land 41 weitere Jahre regierte. Allerdings war ihr Gesicht von den zurück­gebliebenen Narben gezeichnet, sodass sie Zeit ihres Lebens ein starkes Make-up trug.

Die Behandlung bestand im Mittelalter aus verschiedenen Elixieren, Tränken und Salben. Ein Gerstentrunk sollte etwa das Fieber senken; Gerste zusammen mit Mohn und Wildem Lattich den Patienten in heilenden Schlaf versetzen. Die Pocken selbst beträufelten die mittelalterlichen Ärzte mit einem Schwefel-haltigen Öl. Auch soll die Farbe Rot eine wichtige Rolle bei der Behandlung gespielt haben: Rote Decken, rote Gardinen, roter Wein zum Gurgeln.

Pocken-Party in Konstantinopel

Es mussten jedoch zwei weitere Jahrhunderte vergehen, bis man den Pocken und dem Variolavirus wirklich etwas entgegen­setzen konnte. Edward Jenner war noch nicht geboren, da setzt Sultan Achmed III. 1714 in Konstantinopel eine aus China importierte, ungewöhnlich anmutende Methode in die bevölke­rungsweite Praxis um. Gesunde Menschen werden absichtlich mit infektiösem Material von leicht erkrankten Pocken-Patienten in Kontakt gebracht, und infizieren sich. Einmal erkrankt, bleiben die so inokulierten Menschen von der Seuche verschont. Mehrere tausend Menschen lässt der Sultan immunisieren.

Beeindruckt von der Prozedur und vor allem den Resultaten schreibt die englische Schriftstellerin Mary Wortley Montagu, deren Ehemann als Botschafter am Osmanischen Hof weilt, in einem Brief nach England: „Every autumn, in the month of September, when the great heat is abated, people send to one another to know if any of their family has a mind to have the smallpox. They make parties for this purpose, and when they are met (commonly fifteen or sixteen together) the old woman comes with a nutshell full of matter of the best sort of smallpox and asks what veins you please to have opened. She immediately rips open that you offer to her with a large needle (which gives you no more pain than a common scratch) and puts into the veins as much venum as can lie upon the head of her needle, and after binds up the little wound with a hollow bit of shell, and in this manner opens four or five veins.“ Auch ihren eigenen Sohn ließ die Schriftstellerin in Konstantinopel auf diese Art immunisieren. Und setzte sich sehr dafür ein, die Methode auch nach England zu exportieren.

Satans Erfindung

Das war allerdings leichter gesagt als getan. Der Widerstand war groß, vor allem bei alt eingesessenen Ärzten und natürlich der Kirche. Man sprach von einem gefährlichen, heidnischen Experiment und von einer „diabolischen Erfindung des Satans“. Erst nachdem sieben Gefangene des Newgate Prison und sogar zwei Prinzessinnen des englischen Königshauses die Impfung 1722 schadlos überstanden hatten, war sie auch zumindest in Mediziner­kreisen akzeptiert.

Ende des 18. Jahrhunderts sorgt dann der englische Landarzt Edward Jenner für die allseits bekannte Sternstunde der Medizin (nachzulesen in seinem 1802 veröffentlichten Bericht). Aus den Bläschen, die sich nach einer Infektion mit den für den Menschen harmloseren Kuhpocken bilden, entnimmt er Eiter und impft damit einen Jungen, der nur ein leichtes Fieber entwickelt. Von Kreuzimmunität wusste Jenner natürlich damals noch nichts, aber die Methode funktionierte. Der Junge war durch  Kontakt mit dem Kuhpockenvirus nun immun gegen das Variolavirus.

Trotz Impfung mussten die Ärzte des 19. Jahrhunderts auch immer wieder mal Pocken behandeln. Dafür hatten sie das ein oder andere Mittelchen in ihrem Arzneikoffer. So beschreibt 1834 der Surgeon Extraordinary to H. R. H. the Duke of Gloucester, dass er vor allem um der Narben­bildung vorzubeugen, seine Patienten mit einem absorbierenden Pulver behandelt. Er verwendet Calamine, ein mit etwas Eisen(III)-oxid eingefärbtes Zinkoxidpulver, das antiseptisch wirkt (Med Chir Rev, 20(39): 59–62). Ein anderer Mediziner empfiehlt „M. Bailleul’s Treatment“, eine gechlorte Lotion zum Eincremen (Prov Med J Retrosp Med Sci, 7(160): 46).

Heiltrank der alten Squaw

Und schließlich erwähnt H. Chalmers Miles, Assistant-Surgeon der Royal Artillery, eine indianische Heilpflanze – eine, wie er schreibt, „old squaw remedy“. Die Wurzeln dieser Pflanze werden zerrieben und über Stunden mit Quellwasser zu einem Sud eingekocht. Der Patient trinkt ein Weinglas voll alle vier bis sechs Stunden und fühlt sich nach jedem Glas besser (Trans Epidemiol Soc Lond, 1(Pt 3):278-281). Bei der Pflanze handelte es sich, wie Miles später in Erfahrung bringen konnte, um die fleisch­fressende Rote Schlauchpflanze (Sarracenia purpurea). Interessan­terweise konnten amerikanische Forscher im Jahre 2012 tatsächlich eine antivirale Wirkung von S. purpurea in vitro nachweisen (PLoS One, 7(3): e3261). In infizierten Zellen, die mit frischem Pflanzenextrakt behandelt wurden, konnte sich das Vakziniavirus nicht mehr replizieren.

Richtig gelesen: Vakziniavirus, denn das muss im Labor für das Variolavirus herhalten. Zu gefährlich wäre die Arbeit mit dem echten Pockenvirus. Auch die modernen Impfstoffe basieren auf dem Vakziniavirus. Wo es ursprünglich herkommt, ist ein allerdings noch immer ein Rätsel. Klar ist zumindest, dass irgendwann in den 1930er-Jahren mal jemand nachgeschaut hat, was denn im Pocken-Impfstoff eigentlich drin ist. Eigentlich sollten es ja Kuhpocken­viren sein. Oder nicht? Tatsächlich fand man ein völlig anderes Virus und nannte es erstmal Vakziniavirus, das Impfstoff-Virus.

Von der Kuh zum Pferd

Die älteste noch erhaltene Impfstoff-Ampulle stammt aus dem Jahr 1902. Was wohl da drin ist? RKI-Forscher Andreas Nitsche und Kollegen sequenzierten den Ampullen-Inhalt und fanden auch hier keine Kuhpocken­viren, auch keine Vakziniaviren, sondern eher etwas, das mit dem Pferdepocken­virus verwandt ist (N Engl J Med, 377(15):1491-1492). Noch spannender: Deletionen am Ende der gefundenen Virus­sequenzen erinnerten dann doch an das Vakziniavirus. Stammt also das Vakziniavirus vom Pferdepocken­virus ab? Und hat vielleicht sogar schon Jenner statt Kuhpocken- Perdepocken­viren für sein Vakzin verwendet? Müssten wir also statt von Vaccination (von lateinisch vacca = Kuh) von Equination (von equus = Pferd) sprechen?

Um alles noch verwirrender zu machen, gibt es eine weitere Impfstoff-Quelle – die sogenannte Beaugency-Lymphe (Lancet Infect Dis, 18(2):e55-e63). Diese stammt ursprünglich von spontan aufgetretenen Pockenfällen bei Kühen im Frankreich der 1860er-Jahre und wurde an diverse Impfstoff-Fabriken weltweit verschickt. Damals war ein Impfstoff also oftmals eine illustre Mischung verschiedener Virenstämme; und welchen Vakziniavirus-Impfstoff man bekam, hing auch vom eigenen Wohnort ab. In den USA etwa den NYCBH-Stamm, in Europa den Lister-, Bern- oder Paris-Stamm.

Produziert wurden diese modernen Pocken-Vakzine auf der Haut von Kühen, Schafen oder gar Wasserbüffeln. Hierzu wusch und rasierte man die Tiere an passender Stelle an Bauch oder Flanke und ritzte die Haut mehrfach parallel, in 1 cm Abstand ein und applizierte darauf das Impfvirus. Nach vier bis fünf Tagen waren die Pusteln reif zur Ernte. Gefrier­trocknen machte die Vakzine ab den 1930er-Jahren auch für längere Zeit haltbar.

Vakziniavirus aus Ankara

In München arbeitete man in den 1960er-Jahren hingegen an einem Vakzin, das keine Kuhhaut mehr benötigte (Adv Virus Res, 97:187-243). Dafür nutzten die beteiligten Wissenschaftler einen Vakziniavirus-Stamm, der 1953 von Ankara aus nach Bayern an das Institut für Infektions­krankheiten und tropische Medizin der Uni München gekommen war. Zwei Forscher namens Herrlich und Mayr kultivierten das Virus zunächst auf der „chorio­allantoic membrane“ (CAM) von befruchteten und bebrüteten Hühnereiern. Nach 516 Passagen in primären Hühner­embryo-Fibroblasten hatte sich der Virusstamm so verändert, dass er nicht mehr in Säugerzellen replizieren konnte und nun einen neuen Namen brauchte: Modifiziertes Vakziniavirus Ankara (MVA). Die Zulassung dieses Pocken-Impfstoffs kam im Jahr 1977. Leider etwas spät, die Ausrottungs­kampagne der Pocken war da schon in ihren letzten Zügen. Immerhin 120.000 Menschen erhielten den MVA-Impfstoff.

In den letzten beiden Jahren feiert er allerdings ein kleines Comeback. Zum einen als Vektor eines COVID-19-Impfstoffs, der gerade in inhalativer Form klinisch getestet wird (siehe dazu auch das Interview mit Reinhold Förster im aktuellen LJ-Heft). Und als Abkömmling (MVA-BN) des ursprünglichen Pocken-Impfstoffs (nach weiteren Passagen und Verdünnungen in Hühner­embryo-Fibroblasten) zur Immunisierung gegen die Affenpocken (Imvanex-Vakzin von Bavarian Nordic).

Auch bei den Medikamenten hat sich seit dem mittel­alterlichen Gerstentrunk einiges getan – obwohl deren klinische Prüfung, ähnlich wie bei den Impfstoffen, schwierig ist. Denn anders als noch zu Edward Jenners Zeiten gibt es aktuell keine Pocken-Patienten. Die Studien müssen daher an Tieren durchgeführt werden. Tecovirimat ist als derzeit einziges Pocken-Medikament in Europa seit diesem Jahr zugelassen. Die Substanz hemmt die Aktivität des viralen Hüllen­proteins p37, das das Virus zur Replikation benötigt (J Virol, 79(20):13139-49).

Auch wenn das Variolavirus für alle Zeiten hinter Schloss und Riegel gesperrt ist, andere Orthopoxviren wie die Affenpocken sind bereit, die frei gewordene Nische zu füllen.

Kathleen Gransalke

Bild: Aus der Toggenburg-Bibel von 1411; Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

Referenzen
Wortley Montagu, M.: The Turkish Embassy Letters (1763)
Kotar S. L. & Gessler J. E.: Smallpox -- A History. (2013)


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Letzte Änderungen: 22.09.2022