Editorial

Esoterik an der Charité



Das Berliner Klinikum hat für die Epidemiologin Claudia Witt einen Lehrstuhl eingerichtet. Sie soll dort "die wissenschaftlichen Prinzipien der klassischen Medizin auf die Erforschung der Komplementärmedizin übertragen".

(28. Mai 2009) Der Spiegel und andere Medien, ja selbst Laborjournal regen sich über den Göttinger SFB 552 auf, bei dessen Fortsetzungsantrag der Status einiger Publikationen falsch angegeben wurde und drei (3) Publikationen nicht einmal als Manuskript zu existieren scheinen. Ein ungleich größerer Skandal mit fatalen Konsequenzen für die naturwissenschaftlich fundierte Medizin findet dagegen nur schwachen Widerhall in Berliner Lokalzeitungen, und die stellen den Skandal nicht einmal als Skandal dar.

Es geht um die alternative Medizin an der Charité. Die Epidemiologin Claudia Witt hatte schon am 15. Mai 2008 eine Stiftungsprofessur am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité erhalten. Finanziert wurde diese durch die Karl-und-Veronica-Carstens-Stiftung mit einer Million Euro über fünf Jahre. Inzwischen hat die Charité für Frau Witt und ihre Million einen Lehrstuhl am gleichen Institut eingerichtet. Frau Witt hat nach Angaben auf ihrer Netzseite (Stand 26.5.2009) 70 Publikationen in peer-reviewed Journals.

Bei diesen "peer-reviewed journals" handelt es sich in der Mehrzahl um Zeitschriften mit esoterischem Einschlag oder Themen wie Forsch Komplementärmed Klass Naturheilkd, J Altern Complement Med, Complement Ther Med, Allgemeine Homöopathische Zeitung, Complementary Therapies in Medicine, Journal of Chinese Medicine, Zeitschrift für Traditionelle Chinesische Medizin und so weiter. Die Ausnahme ist unter anderem ein Artikel in Lancet mit dem Titel "Acupuncture in patients with osteoarthritis of the knee: a randomised trial". Darin will Frau Witt festgestellt haben, dass Akupunktur bei Osteoarthritis des Knies anfangs besser wirke als bei Kontrollen, dieser Unterschied im Lauf der Zeit aber verschwinde.

Auf ihrem Lehrstuhl will Frau Witt "die wissenschaftlichen Prinzipien der klassischen Medizin auf die Erforschung der Komplementärmedizin übertragen" (Berliner Zeitung). Methoden, deren Wirksamkeit nie nachgewiesen wurde, der theoretische Hintergrund Humbug ist, kurz Quacksalberei, soll also wissenschaftlich erforscht werden. Man hat ja sonst nichts zu tun.

Zudem ist dies schon geschehen. Es gab drei große Zeiten für die Alternativmedizin: Die Zeit vor Pasteur, das Dritte Reich und heute. Im Dritten Reich war fast die gesamte Parteiführung der NSDAP von dieser Hirnseuche infiziert, insbesondere Himmler, Hess und Hitler. Doch gab es auch Mediziner, die sich wehrten. So wurde 1936 in Berlin die Behauptungen der Homöopathen am Krankenbett geprüft: mit verheerenden Ergebnissen. 1939 verebbte die Esoterikwelle dann leise an wirtschaftlichen Zwängen: es hatte sich herausgestellt, dass die Komplementarisierung der naturwissenschaftlich fundierten Medizin durch die Quacksalberei zwar zu höheren Kosten, aber nicht zu niedrigen Krankheitsständen führte.

Man hat ja sonst nichts zu tun

Abgesehen von der wirtschaftlichen Unsinnigkeit: Die Gleichberechtigung von komplementärer und naturwissenschaftlicher Medizin, die Gleichberechtigung der Hirnfürze von Spinnern mit von Hunderten mühsam erarbeiteten Theorien wird über kurz oder lang zum Verschwinden der Medizin überhaupt und zur Wiederkehr des Mittelalters führen. Warum soll sich einer mühsam Wissen aneignen, wenn er gleichberechtigt seinen Eingebungen und dem Magenknurren folgen kann? Wer hat die großen Seuchen erfolgreich bekämpft? Steiner oder Robert Koch? Hahnemann oder Fleming? Aber das hält einen richtigen Alternativmediziner nicht davon ab, die Thesen Steiners oder der alten Chinesen immer wieder aufs neue zu prüfen. Sie könnten ja über Nacht wahr werden. Nicht einmal so grundlegende Wahrheiten wie die, dass der Mensch essen und trinken muss, werden ungeprüft hingenommen. So wurden in einem Berner Spital die Behauptungen eines Anthroposophen, er können nur von Licht leben, geprüft. Man hat ja sonst nichts zu tun.

Die Mehrzahl der forschenden Mediziner schüttelt zwar die Köpfe über dieses Narrentreiben, einschreiten tun sie nicht. Der politische Druck ist wohl zu groß für ihre schwachen Rückgrate.

Der Druck ist in der Tat groß. Frau Witt behauptet, dass sich über 60 Prozent der Bevölkerung mit komplementären Methoden behandeln lassen  und wahrscheinlich hat sie wenigstens hierin recht. In der Schweiz hat die rationale Medizin und damit der gesunde Menschenverstand in einer Volksabstimmung Mitte Mai eine Niederlage erlitten. In Deutschland profilieren sich die Grünen als Avantgarde des Schwachsinns. In einer Pressemitteilung vom 20. Mai schreibt ihre gesundheitspolitische Pressesprecherin: "Die klare Mehrheit für die Stärkung der Komplementärmedizin in der Schweiz sollte für Deutschland ein Ansporn sein, Behandlungsmethoden wie Anthroposophie, Homöopathie oder Akupunktur gleichberechtigt in der medizinischen versorgung zu berücksichtigen."

Das Hanebücherne, das sich ein Rudolf Steiner oder ein Hahnemann in schwachen Momenten aus den Fingern gesaugt haben, soll also gleichberechtigt sein zu den über Jahrhunderte von Zehntausenden ausgebildeter Spezialisten mühsam erarbeiteten Erkenntnissen der evidenzbasierten Medizin? Man greift sich an den Kopf: Nicht Experimente und Tatsache entscheiden, sondern eine klare Mehrheit.

Obwohl: die zahlt ja dann auch dafür.

Hubert Rehm



Letzte Änderungen: 04.09.2009