Editorial

Haben Biologen Angst vor Mathematik?

Kurzinterview mit der Populationsgenetikerin Ellen Baake (Universität Wien/Bielefeld). Das Interview erscheint gemeinsam mit einem Übersichtsartikel zum Thema im nächsten Laborjournal. (Interview und Artikel von unserem Mitarbeiter Harald Zähringer)

Wo sehen Sie im Moment die interessantesten Entwicklungen der mathematischen Biologie?

Ellen Baake: Für mich ist die faszinierende Entwicklung der letzten Jahre, dass die 'klassische' Biomathematik, die ja eine rein deterministische Naturbeschreibung darstellt, nun in der Stochastik ein Geschwisterchen bekommt. Dieses beschäftigt sich mit der Rolle des Zufalls, und da geht zur Zeit besonders im Komplex Genetik/Evolutionstheorie/Bioinformatik die Post ab. Das liegt an der Flut verhältnismäßig exakter, genetischer Daten. Da ist noch viel Neuland, man hat das Gefühl, mehr als nur noch 'Epsilons in vorhandene Theoriegebäude einfügen' zu können. Ich persönlich habe aus diesem Grund 1992 mein Arbeitsgebiet gewechselt.

Wird die mathematische Biologie in den nächsten Jahren einen Boom erleben oder auf Nischen beschränkt bleiben?

Baake: Im Moment erleben wir einen vorher nicht da gewesenen Aufschwung. Bisher war sie absolutes Nischenfach, doch seit 2001 gab es in Deutschland immerhin fünf Professur-Besetzungen: in Greifswald, München, Berlin (HU und FU) sowie in Bielefeld. Von 'Boom' wie etwa in der Bioinformatik würde ich aber nicht sprechen, und das ist auch gut so. Denn damit wäre unvermeidlich auch ein gewisser Niveauverlust verbunden. Es sieht eher danach aus, dass die mathematische Biologie vom Nischenfach, das es bisher war, zu einem kleinen, aber feinen Fach wird.

Sind es eher die Mathematiker, die in der mathematischen Biologie ein neues Betätigungs- und Anwendungsfeld sehen oder kommen die Initiativen von den Biologen?

Baake: Die Initiativen kommen ganz überwiegend aus der Mathematik - von den eben genannten Stellen etwa ist keine einzige in der Biologie angesiedelt. Ich empfinde es als faszinierend, wie sich die Bereitschaft der Mathematik, auf die Biologie zuzugehen, in den letzten fünf Jahren gewandelt hat: Es besteht eine große Bereitschaft von Mathematikern, sich ernsthaft auf biologische Themen einzulassen. Umgekehrt ist das Engagement der Biologie eher enttäuschend. Die Mehrzahl der Biologen hat sogar Angst vor Mathematik. Ich habe einige Jahre die 'Mathematik für Biologen'-Vorlesung an der LMU München gehalten und dabei leidvolle Erfahrungen gemacht. Das ist ein echtes Problem, denn immerhin schickt sich die Biologie zur Zeit an, zu einer quantitativen Wissenschaft zu werden; sie ist jetzt an der Schwelle, an der die Physik vor 100 Jahren war. Die allermeisten Biologen verstehen auch den Unterschied zwischen mathematischer Biologie und Bioinformatik überhaupt nicht - was wieder damit zusammenhängt, dass die meisten Biologen sooo wenig Mathematik können.



Ein ausfürhrlicher Übersichtsartikel zu diesem Thema erscheint in der nächsten Ausgabe von Laborjournal. Heft 6/2004



Letzte Änderungen: 27.05.2004