Editorial

Metzger im Pliozän

Es wird immer deutlicher, dass die unmittelbaren Vorfahren moderner Menschen keine tumben Blödmänner, sondern findige Handwerker waren. Und zwar viel früher als gedacht. Eine Untersuchung vorzeitlicher Tierknochen legt nahe, dass schon Lucy und ihre Kinder Werkzeuge benutzten – vor 3,4 Millionen Jahren.

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Nature-Titel von dieser Woche

(18. August 2010)  Mit fachkundigen Handgriffen schlägt der erfahrene Werkzeugmacher die obere Hälfte des Quarzkiesels ab und fährt demonstrativ vorsichtig mit dem Daumen über die neuentstandene, rasiermesserscharfe Kante. Dann reicht er seinem wissbegierig-glotzenden Lehrling einen unbearbeiteten Brocken und weist ihn an, es ihm gleichzutun. Rings herum sitzen dutzende von Kollegen im Schatten zerklüfteter Steilwände. Ihr gleichmäßiges Klopfen und Hämmern hallt zwischen den Felsen wieder. Das Geschäft brummt; der Betrieb läuft auf Hochtouren.

Wir befinden uns im Weltzentrum der Werkzeugherstellung – vor etwa zwei Millionen Jahren. In der Olduvai-Schlucht im Norden von Tansania – einem bis zu 100 Meter tiefen Canyon, knapp 50 Kilometer lang – begannen die Vorfahren des Menschen erstmals systematisch Hilfmittel zu produzieren. Hier fanden 1931 Louis und Mary Leakey die ersten Steingeräte (publiziert durch Mary Leakey 37 Jahre später unter dem Titel Olduvai Gorge, a report on the evolution of the hand-axe culture in beds).

Heute kennt man die damalige, vormenschliche Lebensgemeinschaft als „Oldowan-Kultur" (oder plakativer „Oldowan Stone Tool Industry"). Sie produzierte die weltweit ältesten Steinwerkzeuge (diese „Pebble Tools" wurden meist aus Kieseln und Geröllbrocken abgeschlagen).

Wer waren die Werkzeugmacher?

Bisher vermuteten Paleoanthropologen vor allem bestimmte Lebensgemeinschaften von Homo rudolfensis, Homo habilis, Homo ergaster und Homo erectus als erste Werkzeughersteller. Keine dieser Spezies ist älter als 2,4 Millionen Jahre (andere Quellen geben ein Höchstalter von 2,5 Mio. Jahren an). Daher ist eine kleine Sensation, was der Leipziger MPI-Archäologe Shannon McPherron (leider wollte er uns kaum mehr über sich verraten als dass er US-Amerikaner ist) in dieser Woche zusammen mit sieben Kollegen in Nature veröffentlichte: Schon vor mindestens 3,4 Millionen Jahren hätten Individuen der Art Australopithecus afarensis (wörtlich übersetzt: „Südaffe") Werkzeuge verwendet.

A. afarensis, erstmals beschrieben durch Donald Johanson, Tim White und Yves Coppens 1978, lebte vor 4 bis 2,9 Millionen Jahren in Ostafrika. Schon länger vermutete man, dass diese prominente Urmensch-Spezies (berühmtester Vertreter: das Fossil „Lucy") Werkzeuge verwendet – oder gar selbst hergestellt hätte.

Mysteriöse Schnittspuren

Zumindest ersteres scheint nun bewiesen. McPherron, Paläonologe am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und seine größtenteils amerikanischen Mitstreiter untersuchten etwa 3,4 Millionen Jahre alte Huftierknochen, gesammelt in Dikika inmitten der legendären paläoanthropologischen Fundstelle im äthiopischen Afar-Dreieck. Legendär unter anderem deswegen, weil man hier so ziemlich alles gefunden hat, was in der Urmenschforschung Rang und Namen hat:  Das bislang vollständigste Exemplar von A. afarensis (Spitzname „Selam"), dessen Artgenossen „Lucy" und „Ardi", und auch die ältesten bisher bekannten Steinwerkzeuge (siehe oben).

Die Forscher musterten diese Tierknochen mikroskopisch sowie elektronenmikroskopisch und fanden auf zwei von ihnen prompt verdächtige Schnitt- bzw. Schlagspuren. Diese ließen vermuten, so die Forscher, dass Urmenschen das Fleisch von diesen Knochen mit Steinwerkzeugen weggesäbelt haben könnten (Shannon P. McPherron et al., Evidence for stone-tool-assisted consumption of animal tissues before 3.39 million years
ago at Dikika, Ethiopia
; Nature 466, 857-860 (2010).

 

McPherron et al. schreiben, dass diese Entdeckung den Zeitpunkt der bisher bekannten frühesten Werkzeugnutzung um schlappe 800.000 Jahre in die Vergangenheit verschiebe – und dass A. afarensis vermutlich der Nutzer dieser Werkzeuge war:

 

"Our discovery extends by approximately 800,000 years the antiquity of stone tools and of

stone-tool-assisted consumption of ungulates by hominins; furthermore, this behaviour can now

be attributed to Australopithecus afarensis."

Die urzeitlichen Metzger hätten vermutlich nicht nur das Fleisch vom Knochen geschnitten, sondern auch das Knochenmark verwertet:

 

"The cut marks demonstrate hominin use of sharp-edged stone to remove flesh from the femur

and rib.[…] The percussion marks on the femur demonstratehominin use of a blunt stone

to strike the bone, probably to gain access to the marrow."

Wieso soll's A. afarensis gewesen sein?

Warum aber ausgerechnet A. afarensis? Wieso kein verwandter Zeitgenosse; woher will man wissen, wer diese Schnitte und Schläge gesetzt hat? Nun, hunderprozentig sicher können sich die Forscher natürlich nicht sein – aber es war eben zu dieser Zeit niemand anderes vor Ort, der zu derlei Metzgerei sonst in der Lage gewesen wäre:

 

"The marks are probably the work of Australopithecus afarensis […] Pending new discoveries,

the only hominin species present in the Lower Awash Valley at 3.39 Myr ago to which we can associate this tool use is A. afarensis."

 

Weil sonst niemand vor Ort war, des es hätte sein können!

 

Genausowenig wissen die Forscher bisher, ob die vermutlich verwendeten Steinwerkzeuge zufällig gefunden und verwendet – oder gezielt zur Beuteverwertung hergestellt wurden:

 

„It is not possible to demonstrate from the modified bones whether the stone tools were knapped

for this purpose or whether naturally occurring sharp-edged stones were collected and used.

No stone artefacts or sharp-edged stones were found in association with the bones […]

In jedem Fall bleibt festzuhalten: Die „Südaffen" waren schlauer, als man bisher dachte: Sie gingen nicht nur aufrecht (zumindest zeitweise), sie betätigten sich zudem als geschickter Handwerker. Bleibt abzuwarten, ob sie auch Werkzeugbauer waren - so wie ihre Verwandten aus der Gattung Homo eine knappe Million Jahre später.

 

Winfried Köppelle



Letzte Änderungen: 04.03.2013